Ulan Bator. Die Kanzlerin war in Asien unterwegs, als in der Türkei Teile des Militärs putschten. Das gab ihr Zeit, weitere Schritte zu planen.

Als der Putsch abgewendet ist, findet Angela Merkel (CDU) klare Worte. „Panzer auf den Straßen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht.“ Das markige Statement ist kein politisches Wagnis, keine Mutprobe mehr. Der Machtkampf in der Türkei ist längst zugunsten von Präsident Recep Tayyip Erdogan entschieden. Merkel ist auf der richtigen Seite, aber gilt das auch für Erdogan? Ist er nach der Grenzerfahrung derselbe Mann? Wird man sein Land wiedererkennen? Das sind einige der Fragen, die jetzt die Kanzlerin umtreiben werden. Hinter ihr liegen sonderbare Tage – und eine abseitige Reise.

Am Sonntag wurde Merkel 62 Jahre alt, ein Geburtstag, der sich ohne böse politische Überraschungen anließ. Die drei vergangenen Tage war die Kanzlerin durch die Welt gedämmert, auf dem Weg zum europäisch-asiatischen Gipfel (Asem) in der Mongolei. Es ist nach Mitternacht in Kirgistan, als sie am Donnerstag erfährt, dass der Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson britischer Außenminister wird. Am Freitag wacht sie in der Mongolei mit der Nachricht vom Anschlag in Nizza auf und anderntags – immer noch in Ulan Bator – mit der Meldung vom Putschversuch.

Kanzlerin stimmt Linie ab

In Krisenzeiten ist die Haltbarkeit von Herrschaftswissen kurz. Merkel ist weder vorgewarnt noch schnell im Bilde. Nicht Opportunität leitet die Kanzlerin, als sie die Linie der Regierung festlegt. Zu diesem Zeitpunkt ist offen, wie der Putsch enden und mit wem sich die Kanzlerin wird arrangieren müssen.

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Wenn es unübersichtlich wird, zieht sich Merkel zurück, wird schweigsam, es wirkt, als ruhe sie in sich. Es ist ihre Art, sich zu sammeln, Fakten zu sortieren und zu analysieren. Aber ihr Sprecher Steffen Seibert twittert, „die demokratische Ordnung in der Türkei muss respektiert werden. Alles muss getan werden, um Menschenleben zu schützen.“ In Ulan Bator ist es 6.23 Uhr früh, in Berlin geht es auf Mitternacht zu. Minuten später fügt Seibert hinzu, „Kanzlerin Merkel im laufenden Kontakt mit den Ministern Steinmeier, Gabriel und Altmaier. Unterstützung für gewählte Regierung.“ Dieser zweite Tweet gilt weniger der Türkei, die Botschaft ist innenpolitisch: Linie abgestimmt, Kanzlerin im Film, Koalition handlungsfähig.

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Merkels Strategie: die kontrollierte Defensive

In Ulan Bator stecken führende EU-Politiker die Köpfe zusammen, Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Merkel und weitere Regierungschefs. Sie alle sind zum Asem-Gipfel dort, wie sich bald zeigt: zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Es ist viel passiert, aber nicht hier. Ulan Bator liegt an der Peripherie.

Am „Chinggis Khaan International Airport“ ist am Sonnabend früh unverhofft Rushhour. Rote Teppiche werden herbeigeholt und ausgerollt, eine Ehrengarde eilt im Laufschritt zum Airbus 340 der Luftwaffe auf dem Rollfeld. So viel Protokoll zum Abschied muss sein, wiewohl die Kanzlerin so schnell wie möglich abfliegen will. Den Schweizer Bundespräsidenten Johann Schneider-Amman, der via Istanbul mit einer Linienmaschine gekommen war und festsitzt, nimmt Merkel nach Berlin mit – per Anhalter durch das Weltgeschehen.

In Ulan Bator hätte sie wie eine Stimme aus dem Off geklungen. Also fliegt die Kanzlerin um die halbe Welt zurück. Es sind fast 18 Stunden vergangen seit den Alarmmeldungen aus der Türkei, als sie vor der blauen Wand im Kanzleramt am dunkelgrauen Pult steht und das Wort ergreift. Alles soll normal aussehen, ruhig, kontrolliert – ein Dementi der Realität, die doch das genaue Gegenteil ist, unruhig und chaotisch.

Merkel stellt sich auf Seite des Rechtsstaats

Die Kanzlerin bestimmt Ort, Zeitpunkt, Bedingungen. Ihr Auftritt ist ein Lehrstück über kontrollierte Defensive. Fragen lässt sie nicht zu. Merkel hätte womöglich keine Antworten parat. Aus ihrem Statement hört man Sorgen heraus. Deutschland stehe an der Seite derjenigen, die Rechtsstaat und Demokratie verteidigten. Merkel sagt nicht, dass sie an der Seite Erdogans stehe, aber, dass sich im Umgang mit dem Putsch „der Rechtsstaat beweisen“ solle. Ihre Solidarität gilt. Aber sie gilt allen, die sich demokratischen Werten verpflichtet fühlen.

Auch in der Mongolei konnte man im Fernsehen verfolgen, wie Tausende Bürger in der Türkei auf die Straße gingen. Selbstredend wird Merkel zugetragen, dass in Berlin mitten in der Nacht 2000 Leute vor der Botschaft der Türkei demonstriert hatten. Pro Erdogan.

Zweifel, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist

Er wird den Schwung mitnehmen und für seine Pläne nutzen. Er wird die Macht seines Amts vergrößern, die Islamisierung forcieren. Klar ist Merkel, dass er aus dem Putsch Stärke ableitet, unklar hingegen, was er mit ihr anfängt. Wird er auftrumpfender, unduldsamer, rachsüchtiger? Unwillkürlich denkt man an den Satiriker Jan Böhmermann.

Merkel muss sich andere Fragen stellen: Ob Erdogan in dieser unruhigen Zeit seine Zusagen im Flüchtlingsvertrag mit der EU halten kann. Ob sie die Gespräche über eine Visa-Freiheit für die Türkei erfolgreich beenden kann. Ob Erdogans Rachefeldzug gegen den Bundestag – wegen der Armenien-Resolution – in die nächste Runde geht. Andere können Unbehagen artikulieren, für eine Regierungschefin hört die Verantwortung nicht auf, da beginnt sie erst. Merkel spürt, dass von ihr erwartet wird, dass sie das Hickhack über eine Einreiseerlaubnis für Abgeordnete beendet, damit sie die Bundeswehr-Soldaten im Stützpunkt Incelik besuchen.

Bestätigt fühlen sich alle, die es für unvertretbar halten, die Türkei im Asylrecht zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären. Kann man Menschen in ein Land am Abgrund zurückschicken? Muss man ihm nicht umgekehrt größere Kontingente von Flüchtlingen abnehmen? Die Kanzlerin ahnt die Fragen, die Antworten wird sie schuldig bleiben und warten, bis der Pulverdampf verzogen ist.