Istanbul/Ankara. Es war ein blutiger Kampf zwischen Putschisten und regierungstreuen Erdogan-Anhängern. Eine Chronologie der Ereignisse in der Türkei.

Kampfjets über der Hagia Sophia, Panzer auf der Bosporus-Brücke, Bombenangriffe auf das Parlament – die Türkei gerät aus dem Nichts in ein Kriegsszenario. Ein Protokoll der blutigen Ereignisse.

Freitag, 15. Juli

• 21.41 Uhr: Ein friedvoller Sommerabend im Istanbuler Stadtteil Kadiköy. Die Straßen sind voller Menschen, als Gerüchte umgehen. Die Brücken sollen gesperrt sein. Terrorgefahr? Ein Anschlag? Hubschrauber kreisen, Kampfjets durchschneiden den Himmel. In Ankara fallen Schüsse. Die Menschen haben Angst. „Was ist hier los?“, twittert ein Deutscher aus Istanbul.

• 22.07 Uhr: „Ein Putschversuch“, sagt der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim und droht: Die Hintermänner „werden den höchsten Preis bezahlen“. Minuten später verkündet das türkische Militär die Machtübernahme.

• 22.39 Uhr: CNN Türk meldet: Präsident Recep Tayyip Erdogan ist in Sicherheit. Aber wo? Wilde Spekulationen auf Twitter: Sucht er Asyl in Deutschland?

• 23.04 Uhr: Soldaten stürmen ein Parteigebäude der regierenden AKP.

• 23.14 Uhr: Ein Ansager des türkischen Senders TRT erklärt, das Kriegsrecht sei verhängt worden.

• 23.30 Uhr: Bizarres Live-Interview auf CNN Türk: Erdogan erscheint – auf einem Smartphone-Display, das eine schwitzende TV-Moderatorin in die Kamera hält. Der Putschversuch sei Werk einer Minderheit innerhalb des Militärs, sagt Erdogan. Er werde die nötige Antwort geben. Die Bevölkerung solle auf die Straßen gehen.

Samstag, 16. Juli

• 00.01 Uhr: „Das soll ein Putsch sein?“ Istanbuler wundern sich über den „dilettantischen Einsatz“: zu wenig Militär, Internet und Telefon funktionieren noch. Bei früheren Aufständen war die Kommunikation unterbunden und der Zeitpunkt so gewählt, dass das Volk morgens in einer neuen Welt aufwachte.

• 00.06 Uhr: Der Anstifter des Putsches soll in den USA stecken: Der Geistliche und Erdogan-Erzfeind Fethullah Gülen stehe hinter dem Umsturzversuch, heißt es unmittelbar nach Beginn des Putsches aus der Regierung.

• 00.28 Uhr: Militärhubschrauber feuern auf die Geheimdienstzentrale in Ankara. Zwei Explosionen erschüttern das Zen­trum der Hauptstadt. Die Putschisten haben laut Regierungskreisen mehrere Panzer unter ihrer Kontrolle.

• 00.44 Uhr: Ministerpräsident Yildirim nennt den Umsturzversuch einen terroristischen Akt. Dahinter stünden „Banden und illegale Gebilde“.

• 1.01 Uhr: Es herrscht Krieg in der türkischen Hauptstadt. Ein Kampfjet schießt einem TV-Bericht zufolge über Ankara einen Militärhubschrauber der Putschisten ab. Kurz darauf sollen bei Gefechten in der Zentrale der Spezialeinheiten 17 Polizisten getötet worden sein. Eine unabhängige Bestätigung dafür gibt es zunächst nicht.

• 1.25 Uhr: Muezzins rufen das Volk dazu auf, für Erdogan auf die Straße zu gehen. „Allahu akbar!“, Gott ist groß, tönt es aus Lautsprechern. „Es war, als würden sie zum Heiligen Krieg aufrufen“, sagt eine Augenzeugin in Istanbul.

• 1.37 Uhr: Die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldet einen Bombeneinschlag im Parlamentsgebäude in Ankara. Auch in Istanbul ist eine schwere Explosion zu hören.

• 1.52 Uhr: In Berlin rückt die Regierung zusammen. Kanzlerin Merkel sei in laufendem Kontakt mit Außenminister Steinmeier, Vizekanzler Gabriel und Kanzleramtsminister Altmaier. Die Bundesregierung unterstütze „die gewählte Regierung“ in der Türkei, heißt es.

• 1.57 Uhr: Das Staatsfernsehen, zwischenzeitlich abgeschaltet, geht wieder auf Sendung.

• 2.20 Uhr: Eine Meldung verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Erdogans Flugzeug ist in Istanbul gelandet.

• 2.25 Uhr: Besorgte EU-Spitzen fordern eine schnelle Rückkehr zur staatlichen Ordnung. „Die Türkei ist ein Schlüsselpartner der EU“, heißt es in einer Erklärung.

• 2.27 Uhr: Die Ereignisse eskalieren. Erst erschüttern schwere Explosionen das Parlamentsgebäude in Ankara, Minuten später folgen zwei laute Explosionen nahe dem Taksim-Platz in Istanbul. Zugleich erzittert der Atatürk-Flughafen unter einer gewaltigen Explosion.

• 2.45 Uhr: Der private TV-Sender CNN Türk unterbricht seine Ausstrahlung. Ein Moderator sagt, Soldaten hätten die Kontrolle übernommen.

• 2.51 Uhr: Auf dem Taksim-Platz übergeben Putschende ihre Waffen an Polizisten und werden abgeführt. Ist das die Wende? Für Erol Olcak, Architekt der AKP-Werbekampagnen, und seinen 16-jährigen Sohn käme sie zu spät. An der Bosporus-Brücke bezahlen sie ihre Regierungstreue mit dem Leben: Kugeln des Militärs töten Vater und Sohn.

• 2.56 Uhr: Erneute Zuspitzung vor laufenden Kameras: Während einer Live-Übertragung aus dem von Soldaten besetzten CNN-Türk-Studio peitschen Schüsse durch das Sendegebäude.

• 3.00 Uhr: Bilder des Senders NTV zeigen Erdogan, umringt von Anhängern, am Istanbuler Flughafen. Er spricht vom Versuch eines Aufstandes gegen die Solidarität und Einheit des Landes. Die Beteiligten müssten büßen.

• 4.11 Uhr: Wieder reklamieren Soldaten die Kontrolle über den Atatürk-Flughafen für sich – erst waren es putschende, jetzt regierungstreue.

• 5.37 Uhr: Breaking News von CNN Türk: Die Behörden hätten einen Militärhubschrauber abgeschossen, der auf Büros des staatlichen Satellitenbetreibers Türksat gefeuert habe.

• 5.41 Uhr: Der Kampf soll auf der Straße entschieden werden. Erdogan ruft seine Anhänger auf, auf öffentlichen Plätzen zu bleiben. In Ankara gebe es Widerstand, der bald niedergeschlagen sei.

• 6.28 Uhr: Die Putschisten nennen sich „Bewegung für Frieden in der Heimat“. Sie wollen weiterkämpfen.

• 6.33 Uhr: Erdogan-Anhänger greifen Soldaten an, die sich auf einer Istanbuler Brücke ergeben hatten. Die Polizei kommt ihnen zu Hilfe.

• 6.37 Uhr: Der Chefredakteur der regierungsnahen Tageszeitung „Yeni Safak“ twittert, dass der Fotograf Mustafa Cambaz durch einen Kopfschuss ums Leben gekommen sei.

• 7.05 Uhr: Um das Hauptquartier des Militärs wird immer noch gekämpft. Die Regierung will die Lage unter Kontrolle haben. Die Putschisten hätten nur noch einige Hubschrauber.

• 8.20 Uhr: Auch der türkische Geheimdienst soll angegriffen worden sein. Militärhubschrauber hätten Schüsse abgefeuert.

• 10.31 Uhr: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist „zutiefst beunruhigt über die jüngsten Entwicklungen in der Türkei“.

• 11.30 Uhr: Keiner weiß, wie viel Blut geflossen ist. Ministerpräsident Yildirim spricht von 161 Getöteten und 1440 Verletzten. 2839 Militärs seien festgenommen worden, einfache Soldaten und ranghohe Offiziere.

• 11.42 Uhr: Kommt die Todesstrafe zurück? 2002 hat das Parlament sie abgeschafft. Jetzt sagt Yildirim, die Todesstrafe sei in der Verfassung zwar nicht vorgesehen, man erwäge aber Gesetzesänderungen, damit sich ein Putsch nicht wiederholt.

• 11.50 Uhr: Order des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Keine russische Airline fliegt mehr in die Türkei.

• 13.45 Uhr: Erdogan macht ernst: 2745 Richter werden suspendiert.

• 14.03 Uhr: Der in den USA lebende Kleriker Fethullah Gülen weist jede Verwicklung in den Putsch zurück. Er verurteile den Umsturzversuch. Erdogan stellt Gülen als Putschtreiber hin.

• 14.27 Uhr: Grünen-Chef Cem Özdemir warnt die türkische Regierung vor Todesstrafen. Die Türkei solle „demokratische Größe beweisen, indem sie die Putschisten mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt“, sagte Özdemir dieser Zeitung.

• 16.06 Uhr: Der Putschversuch sei „letztendlich ein Segen Gottes“, sagt Erdogan – weil er nun dafür sorge, „dass unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, gesäubert werden“.