Warschau. Auf dem Nato-Gipfel knirscht es hinter den Kulissen: Merkel und Erdogan können den Streit nicht beilegen. Auch Polen wird kritisiert.

Es ist das Pflichtbekenntnis, wann immer das Nordatlantische Bündnis sich auf höchster Ebene versammelt. „Wir stehen zusammen und handeln zusammen, um die Verteidigung unseres Territoriums, unserer Völker und unserer gemeinsamen Werte sicherzustellen“, heißt es in einer „Transatlantischen Erklärung“ zum Abschluss der Konferenz im Warschauer Fußballstadion. Es war ein gewaltiges Palaver, mit vier Dutzend Staats- und Regierungschefs aus den 28 Nato-Staaten und ihren Partnerländern, mit Nebenrunden der Außen- und Verteidigungsminister, mit einer ausgreifenden Tagesordnung, mit dem donnernden Theater einer Fliegerstaffel am Himmel 400 Meter über der Arena und einer 60-seitigen Abschlusserklärung.

Nachdem sich der Gipfel am ersten Tag auf verstärkte Einsatzbereitschaft an der Ostflanke verständigt hatte, gelobten die Alliierten am Sonnabend weitere Hilfe für Afghanistan und die Unterstützung des Kampfes gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ durch Awacs-Aufklärungsflugzeuge. „Ein Gipfel voller Substanz“, lobte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Und „historisch“, natürlich, angesichts eines Bündels von „Aufgaben, auf die wir uns einstellen müssen … Aber wir liefern, was wir versprochen haben!“

Schwieriges Verhältnis zur Türkei

Aber hinter der Hochglanzfassade herrscht keine ungetrübte Einigkeit. Zum Beispiel zwischen Deutschen und Türken, die nicht nur Verbündete sind, sondern auch – Stichwort Flüchtlinge – in besonderer Weise aufeinander angewiesen. Weshalb die Kanzlerin sich mit dem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan separat zusammensetzte, um die zuletzt aufgetretenen Spannung aus dem Weg zu räumen. Ankara ist erbost über die Resolution des Bundestags, in der das Massaker des Osmanischen Reichs an den Armeniern 1915 als „Völkermord“ bezeichnet wird. Berlin ist aufgebracht, weil die Türken im Gegenzug Verteidigungspolitiker des Bundestags nicht mehr auf den Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik lassen, obwohl dort auch 240 deutsche Soldaten Dienst tun.

Das Warschauer Treffen ist die erste persönliche Begegnung der Kanzlerin mit dem Präsidenten seit der Verabschiedung der Resolution im Bundestag Anfang Juni. Problembeseitigung kann Merkel hernach nicht melden. „Wir haben alle anstehenden Fragen besprochen“, teilt sie schmallippig mit. „Sachlich und konstruktiv“ sei es gewesen. „Dissense sind ja durch so ein Gespräch nicht weg. Aber ich glaube, es war wichtig, dass wir gesprochen haben.“

Von der türkischen Seite bekommt man ein ausführlicheres Ergebnisprotokoll, dessen Korrektheit mangels deutscher Einlassungen freilich nicht zu überprüfen ist. Merkel habe versichert, der Zwist dürfe keineswegs das gedeihliche Verhältnis beider Länder beschädigen. Erdogan seinerseits habe seine tiefe Verstimmung bekräftigt, aber auf eine Möglichkeit verwiesen, wie man aus der Sackgasse herauskommen könne: die vatikanische oder auch österreichische Lösung. Sowohl Papst Franziskus wie das Parlament in Wien haben in Sachen Armenier das V-Wort verwendet.

Erdogan stellt Bedingungen

Der Vatikan und die österreichische Regierung stellten anschließend klar, dass es sich um eine persönliche beziehungsweise parlamentarische Meinung handle, die keineswegs als gesamtstaatliches Verdammungsurteil verstanden werden dürfe. Keine Entschuldigung oder Distanzierung also, aber doch eine deutliche Relativierung. Das wäre die Bedingung für Erdogans Einlenken: Danach werde man auch die Incirlik-Blockade auflösen können. Aus Sicht der Kanzlerin offenkundig kein Königsweg zur Beilegung des Konflikts.

Die Türkei steht auch im Mittelpunkt eines weiteren Nebendisputs. Es geht um das nächste reguläre Spitzentreffen der Allianz in zwei Jahren. Üblicherweise werden Ort und genauerer Termin beim vorangehenden Gipfel bekannt gegeben. Doch diesmal schweigt sich die Schlusserklärung dazu aus, obwohl Ankara sich als Ausrichter beworben hat. Doch dagegen gibt es Widerstand. Nach Informationen aus Konferenzkreisen haben neun Länder, darunter die Bundesrepublik, zu verstehen gegeben, dass sie bei dieser Gelegenheit ungern Gäste des sperrigen und unberechenbaren türkischen Staatsoberhaupts wären. So bleibt vorderhand offen, wo die Staats- und Reservierungschefs den nächsten Gipfel abhalten.

Treffen wollen sie sich freilich in kleinerem Rahmen schon im Herbst nächsten Jahres in Brüssel. Dort wird nach jahrelanger Bauzeit die neue Bündniszentrale eingeweiht. Außerdem wollen die Alliierten die Gelegenheit nutzen, den neuen US-Präsidenten zu begrüßen. Wobei die allermeisten inständig hoffen, es möge eine Präsidentin sein – die demokratische Kandidatin Hillary Clinton, nicht ihr republikanischer Rivale Donald Trump.

In Warschau hat freilich auch der Gastgeber des jüngsten Gipfels seine Probleme mit den so vollmundig beschworenen gemeinsamen Werten. Der rüde Umgang der nationalkonservativen polnischen Regierung mit dem Verfassungsgericht und politischer Konkurrenz verstört nicht nur die EU und den Europarat, sondern auch die Alliierten, bis hinauf zum US-Präsidenten Barack Obama. Der äußert in Warschau seine Sorgen ungewöhnlich offen. Erst in einem Treffen mit seinem polnischen Kollegen Andrzej Duda, anschließend vor der Presse. „Bestimmte Vorgehensweisen (der Regierung in Warschau) und die festgefahrene Situation beim Verfassungsgericht“ gäben Anlass zur Beunruhigung. Es gehe nicht nur um Institutionen, sondern um Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz und Pressefreiheit. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, stramm unter Kontrolle der Regierung, taucht die Kritik nur noch als Nebensächlichkeit auf.