Berlin/London. Zehntausende Briten demonstrieren für den EU-Verbleib. Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt schließt einen Exit aus dem Brexit aus.

Für Katrin Göring-Eckardt ist klar: Der Brexit wird kommen – eine Alternative gibt es nicht. Die Chefin der grünen Bundestagsfraktion über den Umgang mit Großbritannien, die Machtperspektiven ihrer Partei und Nationalismus.

Sie haben in der Bundestagsdebatte zum Brexit gesagt, in Deutschland sollte mehr europäisch gesprochen werden. Was meinen Sie damit?

Katrin Göring-Eckardt: Ich meine damit eine Sprache, die europäische Interessen mitdenkt. In der Vergangenheit war das leider nicht so. Denken sie an Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der während der Griechenlandkrise mehr als deutlich machte, dass die EU das Land nicht benötigt. Wenn wir europäische Politik machen wollen, müssen wir das Gemeinsame und nicht das Trennende betonen.

Kathrin Göring-Eckardt beim Redaktionsbesuch des Hamburger Abendblatts. Sie sieht keine Möglichkeit für Großbritannien, nach der Brexit-Entscheidung in der EU zu bleiben.
Kathrin Göring-Eckardt beim Redaktionsbesuch des Hamburger Abendblatts. Sie sieht keine Möglichkeit für Großbritannien, nach der Brexit-Entscheidung in der EU zu bleiben. © HA / Klaus Bodig | Klaus Bodig

Ist diese Form von Selbstaufgabe nicht typisch deutsch? Bei Franzosen oder Finnen würden Politiker damit kaum punkten.

Wir müssen nicht alles Nationale ablegen oder gar ablehnen. Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft spielt, trage ich gerne ein Deutschlandtrikot oder ein schwarz-rot-goldenes Armband. Wir sollten stolz darauf sein, was uns ausmacht. Uns macht aber auch aus, dass wir wissen: Wichtige politische Herausforderungen wie die Flüchtlingsfrage oder Fragen der global agierenden Wirtschaft lassen sich nicht national bewältigen. Die Europäische Union wird nicht erfolgreich sein, wenn sie sich nur als Ansammlung von Nationalstaaten versteht.

Ist diese Beschreibung in Europa mehrheitsfähig?

Das müssen wir sehen. Wir erleben, dass Rechtspopulisten mehr und mehr Zustimmung erhalten. Das können wir so nicht hinnehmen. Sich jetzt zurückzulehnen und zu hoffen, dass es nicht so schlimm wird, reicht nicht. Wir müssen für ein offenes Europa kämpfen. Ich bin in der DDR groß geworden. Für mich ist Europa ein großes Freiheitsversprechen. Jede Grenze, und sei es auch nur eine Zollgrenze, wäre ein krasser Rückschritt.

Erst Austritt, jetzt Katzenjammer: Verstehen Sie die Briten noch?

Ja und Nein. Vor der Abstimmung gab es schon seit Jahren eine Kampagne, die Brüssel für alles, was falsch läuft, verantwortlich machte. Soziale Probleme, wirtschaftliche Herausforderungen – die Ausländer waren schuld, obwohl gerade osteuropäische Arbeitskräfte in den vergangenen Jahren in Großbritannien zum Wachstum der Wirtschaft beigetragen haben. Hinzu kam, dass der britische Premierminister David Cameron lange schlecht über Europa redete. Insofern muss man sich über das Abstimmungsergebnis nicht wundern. Allerdings hatten wohl viele gehofft, ich zähle mich dazu, dass es nicht zu einem Brexit kommen würde. Jetzt ist die Erschütterung groß.

Sollte man den Briten eine zweite Chance geben?

Man kann nicht so lange abstimmen, bis das Ergebnis stimmt. Ich sehe keine Möglichkeit für einen Ausstieg aus dem Ausstieg. Allerdings bringt die übertriebene Hektik, die die SPD an den Tag legt, auch nichts. Wir können ohnehin nicht bestimmen, wann die Briten ihren Austrittsantrag stellen. Ich kann nachvollziehen, warum Premierminister Cameron den Antrag nicht stellen, sondern das seinem Nachfolger überlassen will. Klar ist aber: Rosinenpickerei wird es nicht geben. Wer zum Beispiel Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben will, muss die Arbeitnehmerfreizügigkeit anerkennen.

Ist es in Wahrheit nicht so, dass die Briten in einer starken Verhandlungsposition sind, weil die EU-Staaten ihrerseits ein großes Interesse am Handel mit der Insel haben?

Ich hätte kein Problem damit, wenn mein Verhandlungspartner meint in einer Position der Stärke zu sein. Aber wir wissen auch, Großbritannien hat 60 Millionen Einwohner, die EU-27 hat 440 Millionen. Es geht darum, partnerschaftlich einen Vertrag zu schließen. Wir haben schließlich auch engere Beziehungen mit Staaten, die kein Teil der Europäischen Union sind wie die Schweiz oder Norwegen. Ich warne davor, jetzt eine Strafaktion gegen die Briten zu starten. Davon würden nur die Rechtspopulisten profitieren.

Fehlt eine emotionale Bindung der Menschen an Europa?

Wir haben eine Fahne und eine Hymne. Wir haben aber keine gemeinsame – oder nur in Teilen eine – europäische Identität. Vor allem junge Menschen halten die Tatsache, dass es keine Grenzen mehr gibt und man sich innerhalb Europas frei bewegen kann, für selbstverständlich. Aber das ist es nicht. Wir müssen mit mehr Leidenschaft für Europa streiten.

Menschen mit Plakaten bei den Kundgebungen in London.
Menschen mit Plakaten bei den Kundgebungen in London. © REUTERS | TOM JACOBS

Wie lässt sich denn eine europäische Identität herstellen?

Das ist nicht so einfach zu beantworten. Die europäische Identität ist etwas, was wir uns erarbeiten müssen. Wir müssen jetzt darüber reden, was für ein Europa wir wollen. Nur um ein Beispiel zu nennen: Ohne die Europäische Union hätten wir Klimaschutz nicht in dem Ausmaß, wie wir ihn jetzt haben.

Die Briten sorgten sich, dass durch das Prinzip der Niederlassungsfreiheit mittelfristig viele Flüchtlinge auf die Insel gelangen.

Es ist richtig, dass die Flüchtlingsproblematik Einfluss auf das Referendum nahm, weil damit Angstmache betrieben wurde. Aber zu glauben, durch einen Austritt aus der EU Menschen fernhalten zu können, ist absurd. Flüchtlinge werden trotzdem kommen. Und sie können den schrumpfenden europäischen Gesellschaften gut tun – beispielsweise mit Blick auf den Fachkräftemangel.

1,6 Millionen Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr. Europa scheint überfordert und bei der Verteilung fehlt der Konsens. Müssen wir nicht sagen: es reicht? Mehr schaffen wir nicht.

Ein Prozent Flüchtlinge überfordert uns und Europa nicht. Die Überforderung entstand, weil viele Flüchtlinge innerhalb kurzer Zeit kamen. Vielen Menschen hat Angst gemacht, dass es dafür keinen Plan und keine Ordnung gab. Zudem bin ich mir sicher, dass wir den Deal mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht lange durchhalten werden. Es gibt Meldungen, dass mit Hilfe von Schießanlagen verhindert werden soll, dass Flüchtlinge die türkisch-syrische Grenze überschreiten. Das kann nicht in unserem Sinne sein. Wir müssen die Bevölkerung in Europa darauf vorbereiten, dass Flüchtlinge natürlich auch weiter kommen können. Wir müssen dafür sorgen, dass sie geordnet kommen. Und wir müssen wissen, wer kommt. Dazu gehören Grenzkontrollen an den europäischen Außengrenzen sowie Hotspots, wo Flüchtlinge registriert werden und dann entschieden wird, wer wohin kommt.

Aber es sind nicht alle Staaten bereit, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen.

Für Länder, die wie Ungarn keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, hat die EU-Kommission einen gangbaren Vorschlag unterbreitet: Wer nicht will, soll dafür bezahlen. Das Geld bekommt dann das Land, das Flüchtlinge aufnimmt.

Welche Machtoptionen haben die Grünen bei der Bundestagswahl 2017?

In einem Jahr kann viel passieren. Aber klar ist, es wird nicht einfach: Es gab Zeiten, da standen die Zeichen auf Rot-Grün. Das werden wir wohl 2017 nicht erleben. Die Grünen sind derzeit an zehn Landesregierungen und dabei an sieben verschiedenen Koalitionsvarianten beteiligt. Es gibt keine klassischen politischen Lager mehr. Wir werden ohne Koalitionsaussage, eigenständig, und mit einem grünen Programm in den Wahlkampf ziehen. Wir wollen Regierungsverantwortung und so das Land nachhaltig und sozial gestalten. In welcher Konstellation wir das am Ende umsetzen können, wird sich zeigen.

Die Wahl 2013 endete mit einer großen Enttäuschung für die Grünen, Sie waren Spitzenkandidatin. Was qualifiziert Sie für einen zweiten Versuch?

In der Wirtschaft heißt es, einmal scheitern ist gut. Beim zweiten Mal wird man besser. Wir haben den Generationswechsel geschafft. Jetzt geht es darum den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und für ein offenes Deutschland kämpfen. Wir müssen zeigen, dass die Polarisierer nicht zum Mainstream gehören. Das ist unsere Aufgabe für 2017.

Das Interview wurde von Matthias Iken, Sascha Balasko, Oliver Schirg und Peter Ulrich Meyer geführt.