Berlin/Brüssel. Knapp zwei Milliarden: So viel mehr müsste Deutschland in den EU-Haushalt einzahlen, wenn Großbritannien austritt, sagen Experten.

Michael Gove will sich Zeit lassen. Der mögliche Nachfolger des britischen Premierministers David Cameron sagte am Freitag, er rechne nicht damit, dass Großbritannien noch in diesem Jahr den Antrag auf Austritt der Europäische Union stellen werde. Dafür müsse man ausführliche Vorgespräche führen. Wann die Briten also genau die EU verlassen, bleibt auch eine Woche nach der Abstimmung offen.

In Deutschland gewöhnt man sich freilich an den Gedanken, dass der Brexit kommt, und diskutiert die Folgen für die deutschen Steuerzahler. Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) beispielsweise will einen möglichen Einnahmeausfall durch Einsparungen im „aufgeblähten“ EU-Haushalt wettmachen. Die bisherigen britischen Beiträge dürften nicht nur auf Deutschland und die übrigen Nettozahlerländer umgelegt werden, sagt er. Das sei „Populismus“, findet dagegen der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. Bei den EU-Ausgaben werde bereits gespart.

Auf Deutschland kämen zwei Milliarden Euro jährlich zu

Das Institut der deutsche Wirtschaft Köln (IW) hat nun versucht, etwas mehr Klarheit in die Debatte zu bringen. In einer Studie, die dieser Redaktion vorliegt, hat IW-Forscher Berthold Busch den EU-Haushalt der Jahre 2010 bis 2014 darauf untersucht, welche Länder wie viel Geld an die EU-Kasse abführen – oder wie viel Geld sie unterm Strich aus dieser Kasse erhalten. Daraus lässt sich ableiten, was passiert, wenn Großbritannien nicht mehr dabei ist. Das Ergebnis: Kommt der Brexit, müsste Deutschland im Jahresdurchschnitt knapp zwei Milliarden Euro mehr in den EU-Haushalt einzahlen.

Schon jetzt überweist die Bundesrepublik mit Abstand die größte Summe nach Brüssel. Im Jahr 2014, dem letzten Jahr, das die Studie des IW berücksichtigt, waren es mehr als 17 Milliarden Euro. Auf Platz zwei folgte Frankreich mit 7,5 Milliarden Euro. Nur knapp dahinter lagen Großbritannien (sieben Milliarden) und die Niederlande mit gut sechs Milliarden Euro. Insgesamt standen den zehn Nettozahlern 18 Staaten gegenüber, die mehr Geld aus Brüssel bekamen, als sie überwiesen.

Unterstützung für ärmere Mitgliedsstaaten

Vor allem die Staaten in Osteuropa profitieren laut der IW-Studie von der Umverteilung im EU-Haushalt. So bekam Polen 2014 rund 13,5 Milliarden Euro mehr von der EU zurück, als das Land nach Brüssel überwies, Ungarn erhielt 5,6 Milliarden Euro und Rumänien 4,5 Milliarden Euro. In den baltischen Staaten machen die Überweisungen der EU bis zu elf Prozent des jährlichen Staatshaushaltes aus. „Hier zeigt sich die solidarische Stärke der Union, die ärmere Mitglieder in ihrer Entwicklung entscheidend unterstützt“, sagt IW-Ökonom Busch. Zusammengefasst: Von den 142 Milliarden Euro im EU-Haushalt fließen rund 38 Prozent in den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau schwächerer Mitgliedstaaten.

Wie viel Geld Deutschland nach einem Brexit nach Brüssel überweisen muss, wird letztlich aber von den Verhandlungen zwischen den Staaten abhängen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) jedenfalls kalkuliert im Bundeshaushalt für das nächste Jahr noch keine extra Kosten ein. Großbritannien werde 2017 ziemlich sicher noch EU-Mitglied sein und seinen Beitrag zahlen, heißt es in Regierungskreisen. Alles andere sei „Kaffeesatzleserei“.

Haushaltsentwurf für 2017 liegt vor

Auch Brüssel wartet ab: Die EU-Kommission hat diese Woche ihren Entwurf für den Haushalt 2017 vorgelegt, in dem Ausgaben von 157 Milliarden Euro vorgesehen sind. Das Vereinigte Königreich trägt bislang zwölf Prozent davon. Auswirkungen eines Brexit: bislang keine. Brüssel erwartet, dass Großbritannien zunächst weiter Beiträge zahlen und Fördermittel empfangen wird. „Bis sie ausscheiden, steuern sie bei“, sagt Haushaltskommissarin Kristalina Georgieva.

Ob sich das schon während der laufenden Finanzplanung für die Jahre 2014 bis 2020 ändert, hängt davon ab, wie sehr sich die Brexit-Verhandlungen hinziehen und für welches Datum der Vollzug vereinbart wird. Dauern sie so lange, wie der EU-Vertrag vorgibt, also zwei Jahre, dann könnte das Geld aus Großbritannien im letzten oder sogar schon im vorletzten Jahr der Finanzplanung fehlen. Der Finanzrahmen, bei dessen Festlegung die Regierung in London traditionell als strenger Sparkommissar aufgetreten war, müsste nachjustiert werden.

Allerdings ist nicht sicher, ob die Zweijahresfrist eingehalten wird. Die Erfahrung spricht dagegen, zumal eine Verlängerung im EU-Recht ausdrücklich möglich ist. In der Praxis wird es darauf ankommen, welchen Status Großbritannien im Verhältnis zur EU künftig einnehmen wird. Würden sie sich wie Norwegen einen Zugang zum EU-Binnenmarkt gegen eine Kostenbeteiligung erkaufen, dann müssten die Briten 83 Prozent dessen zahlen, was sie jetzt als EU-Vollmitglied zahlen, das hat die London School of Economics ausgerechnet. Weil das noch immer viel Geld ist, wird sich die Regierung in London kaum darauf einlassen. Billiger für die Briten wäre das Modell eines Teilzugangs zum Binnenmarkt, wie ihn die Schweiz praktiziert. Das brächte der EU höhere Einbußen. Es wäre aber auch für London unattraktiver, weil es zum Beispiel keinen freien Zugang zum Dienstleistungsmarkt gewährleistet. Eines aber ist schon jetzt klar: Der„Briten-Rabatt“, den Premierministerin Margaret Thatcher einst mit eisernem Willen und mit ihrer Handtasche fuchtelnd erkämpfte, der ist vom Tisch.