London. Sie gingen als EU-Bürger schlafen und wachten mit dem Brexit auf. Das Ergebnis spaltet die Briten tief. Beobachtungen aus London.
Es war eine dramatische Nacht. Als um Mitternacht, zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale, das erste regionale Ergebnis hereinkam, wurde es ganz leise. In der Londoner Royal Festival Hall hatten sich die EU-Freunde versammelt. Vorab war die Stimmung verhalten positiv, hatte doch die erste Umfrage nach Wahlschluss einen leichten Vorsprung für den Verbleib in der EU gesehen: 52 zu 48 Prozent. Dann flackerte das erste reale Ergebnis über die Bildschirme: In Newcastle upon Tyne gewann das Verbleiberlager mit 51 zu 49 Prozent. Ein Sieg, na gut, aber er fiel um rund acht Prozent niedriger aus als man erwartet hatte. Hände wurden vors Gesicht geschlagen. Die Mienen wurden lang. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend breitete sich aus. Als wenig später die Wahlleiterin im nordenglischen Sunderland das Ergebnis verkündete, ein Erdrutschsieg von 61 Prozent für Brexit-Befürworter, da kippte die Stimmung endgültig.
60 Prozent der Londoner stimmten gegen den Brexit
Die Finanzmärkte verstanden sofort: Der Brexit kommt. Und sie reagierten. Das Pfund fiel auf einen historischen Tiefststand gegen den Dollar. Die Aktienkurse brachen ein. Um fünf Uhr morgens waren die Würfel gefallen. Letzte regionale Ergebnisse wurden zwar noch gemeldet, aber am Ausgang gab es keinen Zweifel mehr. Kurz nach sieben Uhr am Morgen dann das offizielle Ergebnis: 17.410.742 Briten haben sich für den Austritt aus der EU entschieden, das waren rund 1,27 Millionen mehr als die EU-Freunde. Mit 52 zu 48 Prozent ging das Referendum verloren. Großbritannien wird sich aus der Europäischen Union verabschieden.
Wenig später trat Premierminister David Cameron mit seiner Ehefrau Samantha an der Seite vor die Tür von Nummer 10 Downing Street. Den dort versammelten Journalisten schwante, dass jetzt mehr zu erwarten war als nur ein knappes Statement über den Ausgang und ein Übergehen zur Tagesordnung. Stattdessen wurde es persönlich. „Dies war das größte demokratische Unternehmen in unserer Geschichte“, sagte Cameron. Er dankte allen, die an der monatelangen Debatte teilgenommen hatten, und gratulierte den Brexit-Siegern. Er selbst habe „mit Herz, Kopf und Seele“ für die Mitgliedschaft in der EU gekämpft, „aber das Land hat einen anderen Weg genommen“. Und deshalb, so der Premier, brauche es jetzt einen Wechsel in der Führung. Damit war die Katze aus dem Sack: Cameron hat seinen Rücktritt angekündigt.
Cameron kämpft mit den Tränen
Der nächste Premierminister soll bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober feststehen. Die Morgensonne schien über der Downing Street, aber auf Cameron schien sie nicht. Er hatte am Ende seiner kurzen Ansprache sichtlich mit den Tränen zu kämpfen. „Ich liebe dieses Land“, sagte er, „und fühle mich geehrt, ihm gedient zu haben.“ Dann nahm er Samantha an die Hand, dreht sich um und verschwand hinter der Tür mit der Nummer 10. Damit ist der Führungskampf innerhalb der Konservativen Partei eröffnet. Und wer der nächste Parteichef wird, ist automatisch der nächste Premierminister.
Szenenwechsel: Eine Seitenstraße im Stadtteil Islington in Nord-London. Normalerweise ist es hier ruhig. Nicht heute morgen. Denn in Nummer 20 wohnt Boris Johnson, der ehemalige Londoner Bürgermeister und Politstar der Konservativen, der die Kampagne für den Austritt angeführt hatte. Kamerateams und Fotografen, Zeitungsreporter und Medienvertreter belagern das Haus, aber sie werden zahlenmäßig übertroffen von Hunderten von Londonern, die ebenfalls angerückt sind.
Als Boris Johnson vor die Tür tritt, beginnt ein Gewitter – Kamerablitze und schrille Pfiffe. Unter Buh-Rufen macht sich der Wagen auf den Weg, in dem der aussichtsreichste Kandidat für den Chefposten sitzt. Seine Anhänger werden ihn kurz darauf im Hauptquartier der „Vote Leave“-Kampagne mit Jubel empfangen: Johnson hat erreicht, was er mit seinem Einsatz für den Brexit beabsichtigte – der Sieg ist sein Sprungbrett für den Einzug in die Downing Street.
Die Jungen machen sich Sorgen ums Image
Die empörten Londoner sind aus offensichtlichen Gründen sauer: Denn sie haben mit klarer Mehrheit für einen Verbleib ihres Landes in der EU gestimmt. Quer über die Sieben-Millionen-Metropole haben sich 60 Prozent gegen den Brexit ausgesprochen. Viele sind an diesem Morgen geschockt, traurig, niedergeschlagen und verunsichert. Sie verstehen nicht, wie etwas geschehen konnte, das sie für unmöglich gehalten hatten. „Ich bin am Boden zerstört“, sagt die 51-jährige Anne-Marie Williams angesichts der Mehrheit für den Brexit. „Ich habe richtig Bauchschmerzen.“ Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen tut es ihr vor allem für ihre Kinder leid. „Meine Kinder haben weniger Möglichkeiten in der Zukunft. Sie werden weniger frei reisen und studieren können. Und wofür eigentlich? Da haben alte Leute über die Zukunft junger Menschen entschieden, das ist nicht fair“, sagt sie.
Gerade die Jüngeren machen sich Sorgen um das Image ihres Landes: Lotfi Ladjemi ist Banker, der Brexit bedeutet für den 37-Jährigen unmittelbaren finanziellen Verlust. Aber das interessiert ihn gerade nicht. „Ich dachte immer, wir seien eine weltoffene, liberale und großzügige Gesellschaft“, sagt er. „Das ist es, was für mich bedeutet hat, britisch zu sein“. Jetzt habe das Land wegen seiner Angst vor Einwanderung eine Entscheidung getroffen, deren Auswirkungen viele gar nicht verstanden hätten. „Ich bin seit heute weniger stolz, ein Brite zu sein“, gibt er zu.
Nicht nur in London, auch in anderen großen Städten und besonders dort, wo es Universitäten gibt, wie in Cambridge, Oxford, Leeds oder York, gab es viele Stimmen für die EU-Mitgliedschaft. Verloren ging das Referendum hauptsächlich in den ländlichen Gebieten von England und Wales.
Die Labour-Partei und insbesondere ihr Chef Jeremy Corbyn, der nur einen lustlosen Pro-EU-Wahlkampf betrieben hatte, muss sich nun viel vorwerfen lassen. Gerade in den Labour-Hochburgen, den heruntergekommenen Ex-Industriestädten in den Midlands und in Nordengland, gab es massive Mehrheiten für den Brexit. Auch der Labour-Abgeordnete John Mann bestätigte: „Wähler der Arbeiterklasse, Labour-Wähler sind die Leute, die für diese Entscheidung gesorgt haben.“