Berlin. Leon Schwarzbaum hat den Holocaust überlebt und ist nun 94 Jahre alt. Er wünscht sich keine Strafe für die Täter, sondern Einsicht.

Er kennt die Nummer auswendig. Leon Schwarzbaum diktiert „132624“ – ohne hinzuschauen. Die Zahlen stehen auf seinem linken Unterarm, zwischen seiner Armbanduhr und den Altersflecken an seinem Ellenbogen. Die Ziffern sind dunkelgrau und noch gut zu erkennen. Wie eine Brandmarkung für ein Tier, eine Registriernummer für einen Gegenstand zerstören diese Zahlen jede Idylle wie diesen sonnigen Nachmittag auf seinem Balkon vor ein paar Tagen.

Die Nummer wurde ihm am 1. August 1943, an seinem ersten Tag im deutschen Konzentrationslager in Auschwitz, tätowiert. Jeder bekam eine solche Zahlenkombination, sie ersetzte im Lager den Namen der Gefangenen und ist bis heute Symbol für die Versklavung, Entmenschlichung und Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten.

Gericht verhandelt über 170.000 Mordfälle

Leon Schwarzbaum heute.
Leon Schwarzbaum heute. © Reto Klar | Reto Klar

Warum behält man so eine Tätowierung? „Sie stört mich nicht“, sagt Leon Schwarzbaum. „Die lasse ich da, bis ich umfalle.“ Schwarzbaum ist ein höflicher, älterer Herr, der inmitten von Antiquitäten in einer Wohnung in Berlin-Grunewald lebt. Einen scharfen Ankläger würde man beim Blick in seine weichen, braunen Augen nicht vermuten. Aber der Mann, der 94 Jahre alt ist und früher mit Antiquitäten gehandelt hat, hat keine Ruhe und keine Altersmilde übrig für seine Schlächter von Auschwitz.

Vor dem Landgericht in Detmold ist derzeit der ebenfalls 94-jährige Reinhold Hanning „wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 in Auschwitz/Polen“ angeklagt. Er war Mitglied des SS-Totenkopf-Sturmbanns, der Wachmannschaft im Konzentrationslager Auschwitz. Am kommenden Freitag, 17. Juni, soll in Detmold nun das Urteil gesprochen werden. Leon Schwarzbaum, der als Nebenkläger in dem Detmolder Prozess auftritt, forderte Hanning im Prozess auf: „Sie sind doch genauso alt wie ich, erzählen Sie endlich die reine, historische Wahrheit!“ Erst Ende April brach Hanning dann sein Schweigen und verlas: „Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht sehend geschehen lassen und dem nichts entgegengesetzt habe.“ Und fügte noch hinzu, dass es ihm aufrichtig leidtue. In einem zusätzlichen persönlichen Bericht räumte er ein, von den Massenmorden gewusst zu haben. Er zeichnete aber gleichzeitig ein Bild von sich, als jemand, der in alles eher hineingeraten sei. Der sich gegen seine Einberufung und den späteren Wachdienst nicht habe wehren können. So habe ihn auch seine Stiefmutter gedrängt, sich freiwillig bei der SS zu melden.

35 seiner Angehörigen wurden ermordet

Leon Schwarzbaum ist das zu wenig. „Hanning hat vieles schöngeredet“, sagt Schwarzbaum. „Er soll wie wir erzählen, was passiert ist. Ich möchte gar nicht mehr, dass er ins Gefängnis geht. Aber er hat dort nicht Händchen gehalten, sondern er war bei der Ankunft der Züge dabei und wusste wie alle, was mit uns passiert. Dass dort gemordet wurde – er hat es doch gesehen.“

Mit jedem Jahr, das seit Auschwitz vergeht, schwindet die Chance auf diese „Wahrheit“ der Helfer und SS-Offiziere. Die letzten Überlebenden sterben, aber auch die Täter. Oder ihre Belastbarkeit schwindet, an jedem Verhandlungstag darf Hanning aus ärztlichen Gründen nach zwei Stunden wieder gehen.

Schwarzbaum geht vom Balkon zurück in die Wohnung zu einem gläsernen Regal, holt einen Bildband und einen Umschlag mit Fotos. Die Bilder in dem Band sind vor einigen Jahren in einem Koffer in Auschwitz gefunden worden. Häftlinge hatten die Fotos darin versteckt und aufbewahrt. Sie sollten all die Menschen zeigen, die nach Auschwitz verschleppt und denen sogar die Erinnerungen an ihr früheres Leben geraubt wurden. Man sieht Hochzeitspaare, Urlauber und Schulklassen. Viele Schulklassen. Ein Kind ist Leon Schwarzbaum, etwa acht Jahre alt, in einem Matrosenanzug. Er sitzt ganz hinten links in der letzten Bank. Neben ihm sein bester Freund. „Die meisten dieser Fotos stammen aus der Gegend von Bedzin, wo wir wohnten.“ Auf einem Foto erkennt er zwei seiner Onkel. Beide wurden ermordet.

Ein Teil der Familie emigrierte in die USA

Geboren ist Leon Schwarzbaum am 20. Februar 1921 in der Otzenstraße in Hamburg-Altona. Seine Eltern betrieben dort ein Eisen- und Stahlgeschäft. Die Mutter stammte aus Polen. Als er vier Jahre alt war, wollte sie zurück. Sie zogen um nach Bedzin, eine Stadt zwischen Krakau und Katowice, in das Haus seiner Großmutter. Die Eltern trafen eine fatale Entscheidung. Denn alle Angehörigen aus Hamburg emigrierten 1938/39 in die USA. Fast alle Verwandten aus Polen starben in Auschwitz. Schwarzbaum zählt sie auf, es sind 35. Seine Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen, Cousins und seine Eltern. Bedzin lag nur 50 Kilometer von Auschwitz entfernt. Sie saßen in der Falle.

1939 hatte Schwarzbaum noch sein Abitur bestanden. Er war ein junger, gut aussehender Mann. Er dachte, das Leben beginnt. Aber mit dem Überfall der Deutschen kamen die Gesetze gegen die Juden. „Nichts durfte man mehr haben, keine Katzen, keine Pelze, keine Radios. Wir durften nicht in die Universitäten, wir durften keine Geschäfte mehr machen.“

Beim Einmarsch der Deutschen flüchteten viele Juden in die Synagoge von Bedzin. Sie dachten, sie wären dort sicher. „Aber was haben die Nazis gemacht? Sie haben die Synagoge in die Luft gesprengt und reingeschossen. Alle 100 Leute, die sich versteckt hatten, waren tot.“ Die Schwarzbaums mussten in Baracken des Stadtgettos ziehen.

Nur mit Beschäftigung kann Schwarzbaum überleben

Im Sommer 1943 wurde seine Familie frühmorgens abgeholt. Er wurde von ihnen getrennt und sollte noch im Getto bleiben. Es ist der letzte Blick, den er an diesem frühen Morgen mit seinen Eltern austauscht, den er nie vergessen wird. Es ist eine dieser Erinnerungen, die sich eingebrannt haben.

Als die Deutschen ihn ein paar Wochen später auch holen, wird er zum ersten Mal Zeuge eines Mordes. Ein Mädchen wird vor seinen Augen von einem SS-Mann erschossen.

Mit diesem Erlebnis beginnt auch sein Überlebenskampf. In Auschwitz angekommen, rät ihm der Tätowierer am ersten Tag, sich eine Tätigkeit zu suchen. Nur so könne man überleben. Am nächsten Tag meldet sich Schwarzbaum beim Lagerältesten. Der suchte einen Läufer. Einer, der ihm darüber Bericht erstattet, wer das Lager betritt. Schwarzbaum war damals 22 Jahre alt und fit.

Gefangene arbeiten für Siemens

Einmal sah er heimlich einen Transporter mit nackten Menschen darauf, sie schrien, reckten die Hände zum Himmel, als ob sie vom Himmel Hilfe bekommen würden. Sie wurden zur Vergasungsanlage gefahren.

Schwarzbaum wird für das Außenlager Bobrek ausgewählt. Dort stellen die Häftlinge in einer Siemens-Fabrik Teile für Flugzeuge und U-Boote her. Als die Russen im Winter 1945 näher kommen, müssen alle 280 Siemens-Leute 180 Kilometer nach Gleiwitz laufen. Jeder bekommt nur ein Brot für die gesamte Strecke. Von dort aus geht es mit dem Zug ins Außenlager Berlin-Haselhorst. Bevor Schwarzbaum den Zug besteigt, findet er den Rucksack eines SS-Mannes. Er klaut ihn, wirft ihn auf den Zug, klettert hinterher. Zusammen mit drei anderen versteckt er sich unter einer Decke. In dem Rucksack finden sie Wurst und Brot und warme Kleidung. Während viele auf dem Zug sterben, überleben die vier. Die Toten werden einfach aus dem fahrenden Zug geworfen.

Als das Außenlager Haselhorst bombardiert wird, werden die Häftlinge ins KZ Sachsenhausen gebracht. Von dort aus wird er nach zwei Monaten auf den Todesmarsch nach Schwerin geschickt. „Wir sollten nicht berichten können.“ Auf dem Weg sterben viele, jeder, der umfällt, wird erschossen. Schwarzbaum ernährt sich von Brennnessel.

„Ich konnte mich gar nicht freuen, ich war zu schwach.“

Dann, am 2. Mai 1945, kurz vor Schwerin, werden sie von den Amerikanern befreit. Wie hat er diesen Moment erlebt? „Ich konnte mich gar nicht freuen, ich war zu schwach.“

Zu all diesen grauenhaften Erlebnissen wurde Schwarzbaum auch im Detmolder Prozess befragt. Er wurde zum Nebenkläger durch den Verlust von Eltern, Freunden und Verwandten, aber ebenfalls, weil er „die Hölle von Auschwitz auch selbst in all ihrer Unmenschlichkeit“ erlebt und „bis zu einer sehr schmalen Lebenszone kurz vor dem eigenen Tod erfahren“ musste, so formulierte es sein Anwalt Thomas Walther in seinem Plädoyer im Mai. Walther ist zusammen mit dem zweiten Nebenklägeranwalt Cornelius Nestler zudem einer derjenigen Juristen in Deutschland, die zu einer Änderung der deutschen Rechtsauffassung bei der Beurteilung von nationalsozialistischen Verbrechen beigetragen haben. Er führte die Vorermittlungen gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk an, die zur Anklage der Staatsanwaltschaft München führten. Bis zum Urteil im Jahr 2011 weigerten sich die deutschen Gerichte, den Massenmord in den Vernichtungslagern als einheitliches, arbeitsteiliges organisiertes Verbrechen zu beurteilen, sodass jeder, der beteiligt war, sich der Beihilfe schuldig machte. Mit dieser Ansicht scheiterte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1963 beim ersten deutschen Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Nur der wurde verurteilt, dem ein eigenhändiger Mord nachzuweisen war.

Der Justizminister kritisiert seine Vorgänger

Diese Rechtspraxis erklärt die wenigen Urteile bis zum Demjanjuk-Urteil und die relativ häufigen Prozesse gegen Helfer seither. Ein Zustand, der im Justizministerium inzwischen durch eine unabhängige historische Kommission aufgearbeitet wird. Justizminister Heiko Maas, SPD, kritisiert seine Vorgänger: „Justiz und Politik haben in der Nachkriegszeit bei der Verfolgung der NS-Verbrechen größtenteils versagt. Die Auschwitz-Prozesse waren das Verdienst weniger, allen voran Fritz Bauer. Zu viele wollten aber vergessen, verdrängen, wegsehen.“

Auch Schwarzbaum hat es all die Jahrzehnte keine Ruhe gelassen, dass man nicht alle Verbrecher bestraft habe. „Im Vergleich dazu, wie viele Tausende dabei waren, sind es doch auffällig wenige, denen ein Prozess gemacht wurde und die bestraft wurden.“ Aber es geht ihm nicht nur um die detailtreue Beschreibung der Aufgaben und Taten der SS-Leute und Helfer in den Lagern, er hat auch noch eine andere Frage. „Alle sagen wie Hanning, dass sie eher durch Zufall dabei waren. Aber was ging in einem der Wächter vor, wenn er seine Mütze wegwarf und einen Häftling aufforderte: Hol’ die Mütze, hol’ die Mütze? Und ihn dafür dann erschoss?“ Das habe nur wenig mit Befehlen zu tun gehabt. Menschen können „blutrünstige Bestien“ sein, sagt Schwarzbaum.

Wie konnte er mit der Erinnerung und diesem Menschenbild weiterleben? „Meine Motivation war zu erzählen, für mein Volk und meine Eltern. Das gibt mir Kraft.“

Er zeigt ein Bild seiner Eltern, das ihm seine Verwandtschaft aus den USA nach dem Krieg geschickt hatte. Er hatte ja keine Bilder mehr. Seine alten Hände halten es fest wie einen Schatz.