Kelebija. Die Balkanroute ist geschlossen, sagt die EU. Doch tatsächlich sind hier weiterhin Hundert Flüchtlinge unterwegs, weiß unser Reporter.

Du schläfst am Tag – und schleichst bei Nacht über die Grenze. Sei schnell und nie allein. Laufe durch die Wälder und über die Schienen, meide die großen Straßen. Lass keine Plastiktüten oder Flaschen liegen, weil die Polizei den Müll wie eine Spur verfolgt. Nimm Kekse mit und viel Wasser, aber trage nie mehr als einen Rucksack, denn du wirst viel und lange laufen müssen. Und wenn du Glück hast, schnappen dich deutsche Polizisten, die hier bei der Kontrolle an der Außengrenze der EU helfen. Wenn du Pech hast, erwischen dich bulgarische Schlägertrupps.

Das sind die Regeln auf der neuen Balkanroute. Hassan aus Afghanistan erzählt davon, auch Hanan und Hawia aus Syrien und Dheyaa aus dem Irak. Sie sind geflohen von der Türkei nach Griechenland oder Bulgarien, weiter über die Staaten des Balkans, sie wollen in Richtung Westen. Gerade sind sie gestrandet in Serbien, am Lager an der Grenze zu Ungarn, im Park von Belgrad, den viele hier nur noch „Afghani Park“ nennen, oder im Camp der serbischen Regierung, wo Menschen in alten Arbeiterbaracken unterkommen.

Flüchtlinge sind auf sich gestellt

Das sind die Regeln auf der neuen Balkanroute, auf der die Menschen nicht mehr von Staat zu Staat mit Bussen oder Bahnen gefahren werden, durchgewunken bis Österreich und Deutschland, wie noch vor einem halben Jahr. Seit ein paar Wochen ist das griechische Lager in Idomeni mit Tausenden Flüchtlingen geräumt, der Pakt zwischen EU und Türkei gilt seit März. Und die Balkanroute ist dicht, ihre Grenzen mit Zäunen und Soldaten abgeriegelt. Heißt es jedenfalls. Aber wer den Regeln folgt, der kommt auch jetzt noch durch.

Ahmet aus Syrien hockt auf einer Wolldecke zwischen bunten Igluzelten, neben ihm sitzt seine Mutter und eine kurdische Freundin. Unter ihnen sind kein Gras oder Sand, sondern Fliesen, neben ihnen Regale, wo früher Zeitschriften, Wodkaflaschen und Zigarettenstangen zum Verkauf auslagen. „Trek Duty Free Shop“ steht draußen an einem Schild. Früher, im alten Europa, boomte hier zwischen Serbien und Ungarn das Grenzgeschäft. Heute pellt der Putz von den Wänden der Kioske, Restaurants und Cafés wie tote Rinde einer Birke. In den Regalen liegen jetzt Zahnpasta-Tuben, Windeln und Konservendosen. Hilfsgüter.

Unser Reporter mit Ahmed (l.), seiner Mutter und einer Kurdin aus Syrien.
Unser Reporter mit Ahmed (l.), seiner Mutter und einer Kurdin aus Syrien. © Christian Unger | Christian Unger

Im neuen Europa zelten Syrer und Iraker tagelang in verwaisten „Duty Free Shops“, während die Laster 50 Meter entfernt auf der Autobahn an ihnen vorbeibrummen. Es sind die besseren Plätze, geschützt im Gebäude vor Hitze am Tag und Kälte in der Nacht. Die schlechteren sind draußen, am Zaun zu Ungarn, zwischen Plastikmüll, Pfützen und Stacheldraht.

Sie nennen das Lager „Klein-Idomeni“

Etwa 300 Flüchtlinge harren hier nahe des serbischen Ortes Kelebija aus, viele Familien mit Kindern, manche sind gerade erst gekommen, andere wie Ahmet und seine Mutter schon seit zwei Wochen hier. Zelte reihen sich aneinander, manche schlafen auf Decken im Freien. Hilfsorganisationen verteilen Wasser und Essen, meist Brot, Sardinen, ein Stück Schokolade. Die Speisekarte der Flucht. Drei Dixi-Klos hat die Regierung aufgestellt, Duschen und Waschbecken gibt es nicht, nur einen Wasserhahn für alle, an dem abwechselnd Mütter das Geschirr spülen und Väter ihre Kinder waschen. Manche nennen das Lager im Norden Serbiens „Klein Idomeni“, wenn sie auf das Elend hier aufmerksam machen wollen.

Noch im Oktober kamen in Serbien jeden Tag mehr als 5000 Menschen an, manchmal waren es sogar 10.000. Fast alle waren nie länger als ein, zwei Tage im Land, dann ging der Treck weiter, über Ungarn und Österreich bis nach Deutschland. Niemand kontrollierte mehr die Grenze, es waren zu viele und die Staaten nicht vorbereitet. Seit Mitte März sind die Grenzen mit Soldaten bewacht, der Zaun glitzert in der Sommersonne, manchmal kreist ein ungarischer Polizeihubschrauber über dem Lager in Kelebija.

30 Kilometer entfernt ist ein zweites Lager vor dem Grenzzaun. Auf einer Wiese neben der Autobahn harren hier etwa 200 Afghanen und Pakistani aus. „Die Syrer wollen uns nicht in ihrem Lager, und wir wollen hier keine Syrer“, sagt Hassen aus Afghanistan. Solidarität können sich die Schwachen nicht leisten. Am Zaun kämpft jeder für sich. Und wenn es Stress gibt, halten Araber zu Arabern und Afghanen zu Afghanen.

Die Ungarn lassen nur Familien durch den Zaun

Mit seiner Familie sitzt der 19 Jahre alte Hassan am Lagerfeuer zwischen Zelten, Sträuchern und Bäumen. Sie kochen Tee und essen Kekse im Mondschein. Den Tag über haben sie nichts gegessen. Es ist Ramadan. Fasten auf der Flucht.

Im Moment haben sie ja auch Zeit. 15 bis 30 Menschen lassen die ungarischen Grenzer am Tag passieren, ganz offiziell. Sie werden registriert, ihre Fingerabdrücke werden genommen, und sie kommen in ein Camp. Meist lassen die Ungarn nur Familien mit Kindern durch, berichten Helfer vor Ort. So wollen es auch Ahmet und seine Mutter diesmal versuchen, weil sie müde sind und hier die Balkanroute erstmals auch eine legale Abzweigung nimmt.

Junge Männer aber müssen warten. Regel Nummer eins auf der neuen Balkanroute: Du brauchst Geduld. Oder einen guten Schleuser.

Und viele wollen gar kein Asyl in Ungarn, sondern weiter in Richtung Westen. Also versuchen sie die Kontrollen zu umgehen. Trotz Grenzschließung fliehen nach Angaben der Regierung jeden Tag mehr als 300 Menschen nach Serbien. Die meisten illegal, von Bulgarien oder Mazedonien über durch Wälder und über Berge. Die Geflüchteten nennen es den „Dschungel“. Irgendwo in den Wälder, Lagern, Städten zwischen Sofia, Belgrad und Budapest sind ein paar Tausend Menschen auf der Balkanroute unterwegs.

Es kommen mehr Flüchtlinge

Die Staaten sind alarmiert. Denn seit das Lager im griechischen Idomeni vor einigen Wochen geräumt wurde, steigt die Zahl der Flüchtlinge. „Wir mussten weg aus Idomeni, also sind wir losgezogen“, sagt Farid aus Afghanistan. Aber nicht in ein Camp in Athen oder Thessaloniki, wie es die Regierung wollte, sondern über die Grenze. Richtung Westen.

Statt 70 bis 90 Flüchtlinge am Tag kommen nun 100 bis 150 in Ungarn an. Die Regierung in Budapest ließ den Zaun verstärken, auch Österreich postierte unlängst mehr Soldaten an der Grenze zu Ungarn. In Bulgarien und Mazedonien, erzählen Flüchtlinge und Hilfsorganisationen, dass in zahlreichen Fällen Schutzsuchende von Grenzern geschlagen wurden, als die Beamten sie erwischten. Die Berichte häufen sich. Und in Serbien warnen Politiker: „Die sogenannte Westbalkanroute bleibt ein Kanal für Migranten in Richtung Österreich und Deutschland“, sagt Nenad Ivanisevic dieser Redaktion, Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Soziales. „Die Situation ist vergleichbar mit der im Mai 2015. Und nur einen Monat später eskalierte die Lage.“

Ahmed stieg in eines dieser Gummibote

In Kelebija, im Norden Serbiens, eskaliert gerade nur die Langeweile. Ahmet zündet sich im „Duty Free Shop“ eine Zigarette an. Er erzählt, dass er mit seiner Mutter nach Belgien möchte. Dort leben schon seine Brüder. Der Vater arbeitet in Dubai, und als er den beiden genug Geld geschickt hatte, flohen auch sie aus Syrien, wo jeder Tag mit der Angst vor Bombenangriffen beginnt. Krieg zerstört Häuser. Krieg zerreißt Familien. „Ich möchte, dass wir alle gemeinsam in Belgien leben“, sagt Ahmets Mutter. „Das ist mein Traum.“

Die Helfer verteilen gerade zur Abwechslung Datteln aus Tunesien im Lager, ein Stück Arabien in Osteuropa. Ahmets Mutter zupft ein Feuchtigkeitstuch aus der Packung. Duschen und Betten gibt es nur im „One Stop Center“, das die serbische Regierung mit Hilfe aus Deutschland aufgebaut hat. Das Problem: Das Zentrum ist 20 Kilometer entfernt, die Flüchtlinge müssen erst in einen Bus steigen, dann eine halbe Stunde laufen, bis sie dort sind. Kommen sie zurück, ist vielleicht ihr Schlafplatz weg.

Helfer sorgen hier an der Grenze nur für das Nötigste. Sie geben keine Zelte aus. Das will weder die ungarische noch die serbische Regierung. Aus dem „kleinen Idomeni“ soll kein „großes Idomeni“ werden. Also müssen sich die Syrer und Iraker ihre Zelte in Baumärkten in der nächstgelegenen Stadt selbst kaufen.

Anfang Mai stiegen Ahmet und seine Mutter an der türkischen Küste in eines der wackeligen Gummiboote, setzten auf die griechische Insel Chios über und kamen in ein Lager. Doch nach einer Woche konnten sie da raus, schafften es irgendwie auf eine Fähre in Richtung Athen. „Wir hatten Glück“, mehr sagt Ahmed darüber nicht. Über Griechenland und Mazedonien kamen sie nach Serbien. 8000 Euro zahlten sie bisher an Schleuser. Viel Geld, aber dafür mussten sie nicht Tage durch den Dschungel laufen, sondern meist nur ein paar Stunden.

Mit den Grenzzäunen ist auch das Geschäft mit der Flucht zurück auf den Balkan gekehrt. Imran, 22, aus Pakistan, sitzt auf einer Parkbank im Zentrum von Belgrad, der serbischen Hauptstadt, zwei Stunden Autofahrt entfernt von den Grenzlagern. Neben ihm drei Freunde, mit denen er gemeinsam geflohen ist, vor ihm die gepackten Rucksäcke. Eigentlich wollten sie längst unterwegs sein in Richtung Grenze. „70 Euro für ein Taxi. Hat der Boss organisiert“, sagt Imran und zeigt auf einen seiner Freunde, der seinen Schnauzbart akkurat geschnitten hat und eine Atze-Schröder-Brille trägt. Aber weil der Mann mit dem Auto nicht kommt, telefoniert „der Boss“ seit Minuten hektisch am Handy.

Jeden Tag kommen ein paar Hundert Flüchtlinge in den Park am Busbahnhof. Helfer teilen Essen und Trinken aus, manchmal schaut ein Arzt vorbei. Syrer hocken auf der Wiese, Iraker spielen Karten. Und weil hier vor allem Afghanen ihre Zeit vertreiben, nennen die Menschen den Ort mittlerweile „Afghani Park“.

Inzwischen gibt es in Serbien eine Art Willkommenskultur

Imran und seine Freunde sind seit Monaten auf der Flucht, schlagen sich auf eigene Faust durch und illegal über die Grenzen. In Mazedonien wurden sie sechs Mal zurück nach Griechenland geschickt, beim siebten Mal hatten sie Glück. Seit vier Tagen sind sie nun in Belgrad. Länger bleibt kaum jemand, erzählen die Helfer. Vor ein paar Wochen zelteten die Flüchtlinge noch nachts im Park. Doch als Müll und Menschen zu viel wurden, öffnete die Regierung ein Camp am Rand von Belgrad. Jeden Abend fährt der Bus vom Zentrum los zu den Baracken, wo zur Sowjetzeit Arbeiter wohnten, später bosnische Flüchtlinge vom Balkankrieg und nun Syrer, Iraker und Afghanen. Meist schlafen dort jetzt 500 Menschen.

„Die Serben spenden für die Flüchtlinge, und auch die Regierung tut etwas“, sagt einer der Helfer. Es gebe vielleicht sogar so etwas wie eine Willkommenskultur in Serbien. „Aber wenn du weißt, dass die Leute eh nicht hier bleiben wollen, ist das ja auch einfach.“ Und dann fragt er: „Wie macht ihr das in Deutschland?“

Und wie machen das Imran und seine Freunde jetzt? „Es gibt keinen Plan“, sagt er. Sie werden zur Grenze fahren, ihr Zelt im Lager der Afghanen und Pakistani aufschlagen und dort nach Schleusern suchen. „Es gibt viele, es sind Kurden, Iraker, Afghanen, Syrer. Sie sind überall in den Lagern.“ Aus manchen Flüchtlingen sind bezahlte Fluchthelfer geworden.

„Dann zahlen wir 50 oder 100 Euro, und der Schmuggler zeigt uns eine Stelle im Zaun, abseits der Soldaten, schneidet mit einem Bolzenschneider ein Loch in den Draht und dann laufen wir los.“ Imran sagt, eigentlich müsse man keinen besonderen Regeln folgen. Nur dem GPS-Empfänger am Handy. Damit man sich nachts im Dschungel nicht verläuft.

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