Berlin/München. Noch vier Jahre nach Auffliegen des NSU kommt es zu Fehlern beim Verfassungsschutz. Im Fokus stehen weiterhin vor allem die V-Leute.

Am Dienstag bekam der Verfassungsschutz Besuch in seiner Zentrale in Köln. Ein alter Kollege aus den Sicherheitsbehörden, lange Vize-Chef des Bundeskriminalamtes, zuletzt Abteilungsleiter im Innenministerium. Ein hohes Tier, mittlerweile jedoch im Ruhestand. Reinhard Rupprecht kehrt nun für ein paar Wochen zurück, diesmal zum Bundesamt für Verfassungsschutz, dem BfV. Und mit einer heiklen Mission.

Rupprecht wird sich einige Panzerschränke in dem Amt sehr genau anschauen. Und er wird in den kommenden Wochen vor allem mit Verfassungsschützern sprechen, die Informanten aus der extremistischen Szene betreuen, die V-Leute. V wie Vertrauen. Im Moment aber steht dieses V eher für: Vertrauenskrise.

Ende Juni erwartet Ministerium Bericht

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) schickt Rupprecht. Er solle prüfen, ob und welche „Defizite“ es bei Meldewegen im BfV gibt, heißt es offiziell. Ende Juni erwartet das Ministerium Rupprechts Bericht. Eine unangenehme Angelegenheit, auch für BfV-Chef Hans-Jörg Maaßen. Denn inoffiziell ist klar: Offensichtlich führen einzelne Mitarbeiter in dem Amt ein Eigenleben, Dienstvorschriften wurden nicht befolgt, Informationen wurden spät weitergegeben, Kontrolle greift nicht – selbst nach NSU-Skandal und Reformen. Am Ende steht auch die Frage: Wie gut hat Maaßen sein Amt im Griff?

Die Affäre trägt einen Tarnnamen: „Corelli“. Es ist der Deckname des V-Mannes Thomas Richter, eine „Top-Quelle“, wie der Geheimdienst selbst sagt. Von 1994 bis 2012 spionierte Richter mit kurzer Unterbrechung die Neonazi-Szene für das Amt aus – und war selbst Neonazi mit Einfluss, war aktiv in der rechtsextremen Musikszene, wusste Bescheid über Konzerte, CD-Neuheiten, Vertriebe. Und: 1995 traf Richter auf Uwe Mundlos, der drei Jahre später gemeinsam mit Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als „Nationalsozialistischer Untergrund“ abtauchte – und mutmaßlich zehn Menschen ermordete. Hinweise, dass Richter von der Mordserie gewusst hatte, gibt es bisher nicht.

Von „Corellis“ Handy will niemand gewusst haben

Er stand zudem auf der Telefonliste, die Polizisten in der Garage des Trios fanden. 2005 übergab er dem Amt zudem eine CD, auf der einzelne Dateien die Aufschrift „NSU“ trugen. Das macht die Quelle „Corelli“ brisant. Und das macht die jetzige Untersuchung brisant. Denn noch immer steht die Frage im Raum: War der Verfassungsschutz doch näher am abgetauchten Trio, als bisher bekannt? Auch hier haben weder Untersuchungsausschüsse noch der Verfassungsschutz selbst Belege gefunden.

2012 wurde Richter enttarnt, ein Jahr nach Auffliegen des NSU-Trios. 2014 starb er laut Obduktionsbericht an einem Zuckerschock. Und nun, Jahre später, tauchen beim Verfassungsschutz innerhalb weniger Wochen in einem Wust von Unterlagen ein Handy und insgesamt fünf Sim-Karten von „Corelli“ auf. Dessen V-Mann-Führer war nach all den Jahren versetzt worden, er sei oft krank gewesen, räumte seinen Schrank auf. Offenbar hatte der V-Mann-Führer den Überblick verloren – mindestens das. Maaßen hatte schon 2014 veranlasst, alle Unterlagen in den Tresoren zu prüfen und zu registrieren.

Bisher, heißt es beim BfV, habe man auf den Datenträgern keine Hinweise zum NSU finden können. Derzeit prüft das BKA. Doch wieder rückt das Bundesamt bei der NSU-Mordserie ins Rampenlicht. Gerade im Fall „Corelli“ ist das heikel – denn genau zu dieser Quelle und dessen plötzlichen Tod hatte bereits der Ex-Grünen-Abgeordnete Jerzy Montag im Auftrag des Bundestags ermittelt. 300 Seiten umfasst sein Abschlussbericht. Von „Corellis“ Handy will niemand gewusst haben. Nun wird Montag erneut beim Verfassungsschutz aufschlagen und dem Fall nachgehen. Fast zeitgleich mit Rupprecht.

Auch Wechsel an Amtsspitze nicht auszuschließen

Nun zeigt sich auch Maaßen wütend über eigene Mitarbeiter. Die Opposition sieht ihn mit in der Verantwortung. Der aktuelle Fall zeige, Maaßen habe „seine Behörde nicht im Griff“, sagt Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic dieser Redaktion. Niemand wisse offenbar genau, „was sich in den endlosen Tiefen der Panzerschränke im BfV verbirgt“. Auch SPD-Politiker gehen Maaßen scharf an: „Auch vier Jahre nach Bekanntwerden der NSU-Morde bleiben erhebliche Zweifel, ob Mitarbeiter beim Verfassungsschutz einen wirklichen Wandel bei der Arbeit und Mentalität vollziehen“, sagte er dieser Zeitung“, sagte Innenexperte Burkhard Lischka dieser Redaktion. Es müsse „personelle Konsequenzen“ geben, auch „ein Wechsel an der Amtsspitze“ sei nicht auszuschließen.

Der Fall „Corelli“ wirft auch die Frage auf, wie Risiko und Ertrag von V-Leuten in einem gesunden Verhältnis stehen. Sicherheitsleute und vor allem Unionspolitiker heben die Bedeutung von „Quellen“ im Kampf gegen Extremismus hervor. Seit 2011 hat es zudem Reformen geben: Alle fünf Jahre soll die Führung einer V-Person nun gewechselt werden, eine gemeinsame Bund-Länder-Datei soll Transparenz schaffen, diverse Dienstvorschriften wurden genauer gefasst. Für die Opposition ist das nicht genug: Weder sei der Einsatz des V-Mannes zeitlich begrenzt, kritisiert Mihalic, noch werde sichergestellt, dass die V-Person nach dem Einsatz auch aus der Szene aussteige.

Als gestern Sonderermittler Rupprecht seine Aufklärung beim Amt in Köln begonnen hatte, trat in München ein junger Mann vor das Oberlandesgericht: Tino Brandt. Deckname „Otto“. 200.000 Euro soll Neonazi Brandt vom Thüringer Verfassungsschutz für seine Spitzel-Arbeit bekommen haben. „Sehr viel Geld“, sagte er nun im Münchner NSU-Prozess, habe er weiter an die Szene gegeben.