Kabul. Viele Afghanen bereuen ihre lebensgefährliche Flucht nach Europa und entschließen sich zur Rückkehr – weiter in eine ungewisse Zukunft.

Mit nachsichtigem Lächeln sagt Hossain Alemi Balkhi, „von allen Ländern mit Flüchtlingen aus Afghanistan beklagen sich die Deutschen am lautesten“. Seit Langem macht die Bundesregierung Druck. Sie drängt in Kabul darauf, dass der Strom der Flüchtlinge gestoppt und dass zugleich Rückkehrer wieder aufgenommen werden. Flüchtlingsminister Balkhi macht allerdings klar, „dass wir keine Zwangsdeportierten akzeptieren werden. Alle geflüchteten Afghanen muss erlaubt werden, alle legalen Instanzen auszuschöpfen“.

Dennoch scheint der Druck zu wirken. Die Fluchtbegeisterung vieler
Afghanen lässt nach. Auf dem Busbahnhof, von dem im vergangenen Jahr pro Nacht Dutzende von Bussen zur Provinz Nimruz an der iranischen Grenze starteten, ist kaum etwas los. In einem Reisebüro klagt ein Angestellter: „Wir verkaufen 70 Prozent weniger Tickets zum Iran als im vergangenen Jahr.“

Erinnerungsfotos vom Rhein

„Wir besitzen kein repräsentatives Bild“, sagt Mio Sato von der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM) in Kabul, „aber nach unseren Feststellungen entscheiden sich Afghanen seit Anfang des Jahres zunehmend für eine Rückkehr ohne in Europa alle Möglichkeiten auszuschöpfen.“

Shadab Qadari ist einer dieser Heimkehrer. Er sitzt im Hof eines schmucken Hauses in Kabuls Stadtteil Karkhana, im Hintergrund die schneebedeckten Berge des Hindukusch, eine spektakuläre Kulisse, für die er gar kein Auge hat. Der 16-Jährige zeigt lieber Erinnerungsfotos vom Kölner Dom und vom Rhein.

„Geschwister Scholl Straße“, radebrecht der kräftige Junge mit dem modischen Haarschnitt die Anschrift aus Leverkusen. Monatelang teilte er sich dort ein Zimmer mit einem anderen Asylbewerber, unvergesslich die Zeit in Deutschland, vor allem ein Fußballspiel: „Unsere Gruppe war beim Spiel Leverkusen gegen Barcelona. Ich habe Messi und andere Superstars gesehen.“ Seine Augen leuchten, wenn er von Deutschland erzählt. Die Lebensfreude erstirbt, wenn von der Heimkehr die Rede ist.

„Es war lebensgefährlich“

Der Teenager gehört zu den 2800 Afghanen, die nach Monaten ergebnisloser Wartezeit und Tatenlosigkeit seit Anfang diesen Jahres aus eigenem Antrieb überwiegend aus Europa an den Hindukusch heimkehrten. Eine Viertelmillion Afghanen schafften es im vergangenen Jahr bis nach Europa. 154.000 von ihnen landeten in Deutschland. 36.000 wurden in der Türkei aufgegriffen. Für die meisten war es eine Flucht vor Krieg und lebensgefährlichen Lebensumständen – und eine Reise der Hoffnung auf ein besseres Leben. Für Shadab verwandelte sich die wochenlange Wanderung, die er mit den Eltern, seinem Bruder und einer Schwester im August 2015 antrat, in eine Tour des Schreckens. In der zweiten Nacht des Gewaltmarsches über die Grenze vom Iran in die Türkei verlor er den Kontakt zur Familie. Seither führt er ein Leben ohne Hoffnung. Wiederstrebend fand der Junge sich mit dem Gedanken ab, nie mehr von der Familie zu hören. Wahrscheinlich sind Eltern und Geschwister irgendwo zwischen der Türkei und dem Traumziel Deutschland gestorben. Ermordet, ertrunken, verdurstet, entführt. Shadab erinnert sich, „es war lebensgefährlich. In Bulgarien sind wir bei tagelangen Märschen durch Wälder an Toten vorbeigekommen“.

Seine Perspektiven sind mies. Selbst das Kapital flieht. In Kundus, wo jahrelang Bundeswehrtruppen stationiert waren, wo Millionen von Aufbaugeldern flossen, schlossen seit Anfang des Jahres 370 der 400 Geschäfte. Die Lage ist vielen zu unsicher, seit die radikalislamischen Taliban-Milizen im Oktober die Stadt ein paar Tage lang besetzten. Internationale Organisation warnen vor einer Ausbreitung der Konfliktregionen.

IOM half Shadab mit einem Startgeld von 2000 Euro über die ersten Anfangsschwierigkeiten. Der Teenager lächelt, „ich habe 10.000 US-Dollar verpulvert, um 2000 Euro zu bekommen.“ Auf eigene Faust hatte er sich bis nach Deutschland durchgeschlagen mit 10.000 US-Dollar, die seine Mutter im Bund der einzigen Hose eingenäht hatte.

Rückkehrer müssen den Spott ihrer Landsleute aushalten

Gemessen an der Viertelmillion Afghanen, die 2015 Europa erreichten, erscheint die Zahl von 2800 Heimkehrern seit Jahresbeginn verschwindend gering. Aus dem Iran und Pakistan, die beide seit Jahrzehnten Millionen von afghanischen Kriegsflüchtlingen beherbergen, kehrten 2015 rund 700.000 Vertriebene heim nach Afghanistan.

Rückkehrer müssen den Spott ihrer Landsleute aushalten. „Bist du verrückt“, antwortete ein hohes Mitglied aus Kabuls Regierung am Telefon, als ein Verwandter ihm nach fünf Jahren fruchtlosen Wartens auf Anerkennung durch die Vereinten Nationen als Flüchtling in Indonesien seine Heimkehrpläne verkündete. Dabei hatte der Mann allen Grund zu fliehen und nicht zurückzukehren – um Haaresbreite überlebte er zwei Selbstmordanschläge.

„Wenn Afghanen 4000 Euro für die Heimkehr zugesagt würden, wären viele sofort zur Rückkehr bereit“, glaubt Mohammed Naim Salozai, „viele bleiben im Augenblick nur, weil sie so Abstand zu den Leuten haben, die ihnen für die Flucht Geld geliehen haben“. Der 31-jährige Mann aus dem kleinen Dorf Asmar in der umkämpften Provinz Kunar ist ein idealer Kandidat für die Rolle des Posterboys einer Anti-Flucht-Kampagne. „Nie wieder Flüchtling“, sagt Salozai, der früher bei einer Baufirma arbeitete, die mit Nato-Aufträgen gutes Geld verdiente. Nun ist der Job weg und 11.000 US-Dollar an Ersparnissen. Nach elf Monaten in Gelsenkirchen gab der Vater von zwei Kindern auf: „Ich habe vor allem meine Familie vermisst.“

Deutschland ist für viele Sehnsuchtsort

Nicht mal die Gefahr der Taliban-Milizen, die nur einige Kilometer entfernt in den Bergen um seine Heimat Asmar hocken, stimmt ihn um. „Ich hätte nie auf die Qachaqbar (Schlepper) hören sollen“, ärgert sich Salozai, „die beschreiben Europa wie den Himmel auf Erden.“ Stattdessen machte er eine andere Entdeckung: „In Deutschland gibt es Regeln für alle. Das ist anders als in Afghanistan, wo man sich jemand mit Einfluss sucht, der einem helfen kann.“

Trotzdem kann er nicht jedem die Flucht ausreden. Minutenlang hört der 19-jährige Kellner Shafik Ullah in der Teestube seinen Erzählungen zu, plötzlich platzt es mitten im Gespräch aus ihm heraus: „Ich würde trotzdem sofort gehen, wenn ich das Geld hätte.“

Ein Taxifahrer in Kabul klebte seine feste Überzeugung auf das Rückfenster seiner Droschke. „Shud, na shud, alman me-rawam“ prangt dort in arabischer Schrift: „Wenns klappt, klappts. Wenn es nicht klappt, geh ich nach Deutschland.“