Istanbul. Es gibt vieles, das Erdogan missfällt: die Armenien-Resolution, kritische Redakteure und sogar eine respektlose Schönheitskönigin.

Die Türkei: ein großes Land. An der Spitze: Recep Tayyip Erdogan. Der Präsident ist mehr als ein Staatsoberhaupt. Er zieht die Fäden in Ankara. Nach der Ablösung des widerborstigen Premierministers Ahmet Davutoglu, den er durch seinen loyalen Gefolgsmann Binali Yildirim ersetzte, hat Erdogan jetzt noch mehr Einfluss – und alle Hände voll zu tun.

Diese Woche ist besonders ereignisreich. Sie begann am Sonntag mit einer Massenkundgebung zum 563. Jahrestag der Eroberung des damaligen Konstantinopels durch die Osmanen. Der Präsident rief, und eine Millionen Menschen strömten auf den Festplatz am Ufer des Marmarameeres. Erdogan schwelgt gern in der Größe der Osmanenära, die er wiederbeleben möchte.

Umso empfindlicher reagiert er, wenn jemand versucht, das Bild dieser glanzvollen Epoche zu beschmutzen – wie jetzt der Deutsche Bundestag, der am Donnerstag über eine Resolution abstimmt, in der die Armenierverfolgungen im Osmanischen Reich als Völkermord bezeichnet werden. Erdogan ließ sich deshalb am Dienstag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel verbinden: „Wir erwarten von Deutschland gesunden Menschenverstand“, habe Erdogan der Kanzlerin gesagt, berichten türkische Medien. Wenn der Bundestag die Resolution billige, würden die türkisch-deutschen Beziehungen beschädigt, warnte Erdogan.

Weder Merkel noch Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) werden allerdings an der Abstimmung teilnehmen. Vizeregierungssprecherin Christiane Wirtz sagte in Berlin, Merkel unterstütze die Resolution und habe bei einer Probeabstimmung in der Fraktion für den Antrag votiert. Aus Termingründen sei sie allerdings verhindert. Auch Gabriel, der die Resolution frühzeitig unterstützt hatte, hat einen anderen Termin. Außenminister Steinmeier, der die Armenien-Resolution ursprünglich verhindern wollte, beginnt am Donnerstag eine Lateinamerikareise.

Erdogan fühlt sich von Verschwörern und Feinden umgeben

Der Präsident kämpft auch noch an vielen anderen Fronten. Er fühlt sich von Verschwörern und Feinden umgeben, wie Merve Büyüksarac. Ein Istanbuler Gericht verurteilte am Dienstag die frühere „Miss Turkey“ zu 14 Monaten Haft auf Bewährung. Das 27-jährige Model hatte im Internet ein satirisches Gedicht über Erdogan verbreitet. Die Richter sahen darin eine Beleidigung Erdogans. Seit dessen Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 wurden in der Türkei fast 2000 Klagen wegen Präsidentenbeleidigung angestrengt, viele davon auf Erdogans Initiative.

Für manche Gegner reicht die Fliegenklatsche des Beleidigungsparagrafen, gegen andere fährt Erdogan größeres Geschütz auf. Die Anhänger seines Widersachers Fetullah Gülen werden nunmehr offiziell als „Gülenistische Terrorgruppe“ eingestuft und verfolgt. Erdogan entzweite sich 2013 mit seinem ehemaligen Verbündeten Gülen, einem islamischen Prediger, der im Exil in den USA lebt. In Gülen sieht Erdogan den Drahtzieher der Korruptionsvorwürfe, die Ende 2013 gegen ihn hochkamen.

Kein Wunder, dass sich Erdogan jetzt gegen die von der EU geforderte Reform der Antiterrorgesetze sträubt – sie sind seine wichtigste Waffe im Kampf gegen Gegner wie Gülen. Auch kritische Journalisten lässt Erdogan mit diesen Gesetzen verfolgen. Anfang Mai verurteilte ein Gericht in Istanbul zwei Redakteure der oppositionsnahe Zeitung „Cumhuriyet“ zu langjährigen Haftstrafen. Sie hatten über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Extremisten in Syrien berichtet.

Mindestens drei Kinder soll jede Familie großziehen

Neben dem unermüdlichen Kampf gegen Kritiker findet Erdogan immer noch Zeit, seinen Landsleuten praktische Lebenshilfe zu geben. So mahnte er am Montag die türkischen Frauen, „unsere Nachfahren zu multiplizieren, unsere Generationen zu vermehren“. Mindestens drei Kinder müsse jede Familie großziehen, so Erdogans Vorgabe. Geburtenkontrolle? „Keine muslimische Familie darf so etwas tun“, warnte Erdogan. Während Kritiker Erdogan vorwerfen, er trete Frauenrechte mit Füßen, läuft bereits das nächste Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung. Nach der Schönheitskönigin Büyüksarac kommt jetzt der Regisseur Mustafa Altioklar an die Reihe. Die Justiz ermittelt gegen ihn, weil er sich in sozialen Medien spöttisch über das Massenspektakel vom vergangenen Sonntag geäußert hatte.

Die Kundgebung zur Eroberung Konstantinopels stand übrigens unter dem Motto „Wiederauferstehung“. Der türkische Kolumnist Ertugrul Özkök kommentierte: „Auch ich wünsche mir eine Wiederauferstehung: Eine freie Presse in meinem Land, ein Land, in dem die Menschen ohne Angst leben und ihre Meinung äußern können, eine unabhängige, unvoreingenommene Justiz …“