Berlin. Eine neue Kriminalstatistik zeigt: 2015 sind bundesweit 130 Minderjährige getötet worden. Und Pornografie wird zum Massenphänomen.

Ein Vater wirft seinen Sohn beim Spielen in die Luft, schafft es aber nicht, ihn aufzufangen. Das Kind schlägt mit dem Bauch auf einen Tisch. Als der Kleine Fieber bekommt, alarmiert die unwissende Mutter den Notarzt. Der Vater verschweigt, was passiert war. Das Kind erliegt seinen inneren Verletzungen.

Eine Mutter schüttelt ihren schreienden Säugling minutenlang, um Ruhe zu erzwingen. Vergebens. Das Kind stirbt an einem Schädel-Hirn-Trauma.

Ein Mädchen verliert stark an Gewicht. Ihre Mutter versorgt sie nur unzureichend. Als das Kind an einem Magen-Darm-Virus erkrankt, stirbt es.

Mehr als die Hälfte stirbt durch Fahrlässigkeit

Drei Schicksale von Kindern, die in Deutschland so oder ähnlich immer wieder passieren und doch vermeidbar wären. Weil sie fahrlässig geschehen, oft von überforderten, hilflosen Eltern. Allein 2015 wurden in Deutschland 130 Kinder getötet – ein Junge in Hamburg. 68 von ihnen – und damit mehr als die Hälfte – mussten ihr Leben durch Fahrlässigkeit lassen. Dies entspricht einem Anstieg um 51 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 54 Kinder wurden vorsätzlich getötet. Dies geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Die Todeszahl liegt damit deutlich über dem Vorjahr mit 108 Fällen. Die meisten getöteten Kinder wurden vor zehn Jahren mit 202 Opfern registriert. Besonders erschütternd: Vier von fünf Opfern waren zum Zeitpunkt ihres Todes jünger als sechs Jahre, 85 Kinder sogar unter drei Jahre alt. Zudem gab es 52 Tötungsversuche.

„Kinder werden täglich Opfer von Gewalt und Misshandlung“, sagte Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts (BKA). „Sie werden vernachlässigt, sexuell missbraucht und die Bilder des Missbrauchs im Internet veröffentlicht.“ Dabei bilde die offizielle Statistik gerade im Bereich des Missbrauchs nur einen Teil der Kriminalität ab. „Wir müssen davon ausgehen, dass viele Taten unentdeckt bleiben.“

13.928 Kinder erfahren sexuelle Gewalt

Bundesweit wurden im vergangenen Jahr 3929 Fälle von körperlicher Misshandlung von Kindern polizeilich erfasst. Weitere 13.928 Kinder erfuhren sexuelle Gewalt. „Das sind fast 270 Fälle sexueller Gewalt gegen Kinder pro Woche – und 38 betroffene Kinder pro Tag“, sagte Münch. Obwohl die Zahl um rund drei Prozent unter dem Vorjahr liege, sei dies kein Grund zur Entwarnung. Viele Kinder werden von Menschen aus ihrem Umfeld misshandelt, die sie kennen. Von Verwandten, Freunden oder Bekannten. „Die Aufklärungsquote liegt mit 80 Prozent deshalb hoch“, so Münch. „Gleichzeitig müssen wir gerade in diesem Bereich von einem hohen Dunkelfeld ausgehen, weil viele Fälle überhaupt nicht angezeigt werden.“

Zur Prostitution sind offiziell 77 Mädchen gezwungen worden. Viele waren zwischen 14 und 18 Jahre alt. Beliebt sei die so genannte „Loverboy-Methode“. Dabei sprechen Männer minderjährige Frauen auf Schulhöfen oder über das Internet an, gaukeln ihnen die große Liebe vor und zwingen sie zur Prostitution. Mädchen seien in diesem Alter teilweise leicht zu beeinflussen und könnten sich nur schwer aus den Fängen dieser Kriminellen befreien, beschreibt Münch.

Kinderpornografie ist ein Massenphänomen geworden

Das Internet spielt bei der sexuellen Ausbeutung eine immer größere Rolle. Über Sex-Dating-Portale gelangen zunehmend Bilder ins Netz, die schnell missbraucht werden können. „Pädophile Täter nutzen beim ,sexting’ und ,grooming’ die Arglosigkeit der Kinder und Jugendlichen aus und animieren diese, intime Bilder von sich freizugeben.“

So habe Kinderpornografie seit 2000 um das zweieinhalbfache zugenommen. „Kinderpornografie ist ein Massenphänomen geworden“, berichtet der BKA-Chef. „Und hinter jedem Bild steht ein realer Missbrauch.“ Die Polizei setze deshalb auf konsequente Verfolgung der Täter. Oft geschehe dies durch Datenauswertung auch in enger Kooperation mit Beschwerdestellen und internationalen Organisationen wie Europol oder Interpol. Allerdings sei dieses Feld wie „ein Katz- und Mausspiel“, sagte Münch. Wir melden viel, wir löschen viel.“ Einen substanziellen Rückgang von Kinderpornografie im Internet sei nicht feststellbar.

Kaum Erkenntnisse über Gewalt gegen Flüchtlingskinder

Erhebliche Lücken räumte der BKA-Chef bei Flüchtlingen ein. Im vergangenen Jahr kamen rund 400.000 Kinder nach Deutschland. Da Fingerabdrücke von ihnen nicht registriert werden, ist nicht immer bekannt, wo sie sich aufhalten. Viele gelten offiziell als vermisst, weil sie, ohne sich abzumelden, ihren Wohnort wechseln. Bislang liegen dem BKA-Chef keine Erkenntnisse vor, ob Flüchtlingskinder bereits Opfer von Menschenhändlern wurden. „Wir haben da leider ein Feld, das wir schwer überblicken können.“

Kinder auf der Flucht seien aber besonders schutzbedürftig, mahnt Kathinka Beckmann, Pädagogik-Professorin der Fachhochschule Koblenz. Alle diese Kinder hätten auf ihrer Flucht Gewalt erlebt, viele seien traumatisiert. Manche fallen in den Kindergärten schon heute als aggressiv auf. Sie bräuchten besondere Zuwendung. „Wenn wir nicht mit den Kindern arbeiten, haben wir mit ihnen in zehn Jahren mit ganz neuen Problemen zu kämpfen.“ Viele Kinder, die Gewalt erlebt hätten, würden nicht selten selbst gewalttätig.

Kinderhilfe fordert mehr Geld und Zeit

Angesichts der „erschütternden Zahlen“ fordert die Deutsche Kinderhilfe einen ganzheitlichen Wandel. „Wir fordern mehr Geld und Zeit für die Qualität im Umgang mit Kindern“, sagte der Vorstandsvorsitzende Rainer Becker. Dazu gehöre eine verpflichtende Aus- und Weiterbildung für alle, die mit Kinder arbeiteten. Die Kinder- und Jugendhilfe müsse durchgängig wissenschaftlich begleitet werden, fehlgegangene Hilfefälle gesetzlich verpflichtend analysiert werden. „Kinderschutz ist keine freiwillige Wohltätigkeit, sondern die originäre Pflicht des Staates.“