Essen. Es wird über eine neue Mindestlohnuntergrenze verhandelt. Verdi-Chef Bsirske ist jedoch mit einigen Entwicklungen nicht einverstanden.

8,50 Euro die Stunde – über wenige Zahlen haben Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften so lange und so hart gerungen wie über den gesetzlichen Mindestlohn, der seit Januar 2015 gilt. Die Tariflöhne sind seither gemessen an der kaum vorhandenen Inflation deutlich gestiegen, der Mindestlohn soll erstmals im Januar 2017 nachziehen. Die Entscheidung darüber steht jetzt an: Bis Ende Juni muss die Mindestlohnkommission eine neue Untergrenze verkünden. Sie wird mutmaßlich deutlich unter neun Euro liegen. Daran und am Verfahren, das zu einer eher geringen Anhebung führt, entzündet sich vorab Kritik.

So kritisiert Verdi-Chef Frank Bsirske, dass die großen Tarifabschlüsse aus dem Frühjahr unberücksichtigt zu bleiben drohen, obwohl sich die Kommission laut Geschäftsordnung an den Tariflöhnen orientieren will. „Ließe die Mindestlohnkommission die in diesem Jahr erzielten Lohnabschlüsse unberücksichtigt, ginge das zulasten der Menschen am untersten Ende der Lohnskala“, sagte Bsirske dieser Redaktion. Tatsächlich bleiben nach jetzigem Stand mit den Abschlüssen in der Metall- und Elektroindustrie und im öffentlichen Dienst wohl Tariferhöhungen für fast sechs Millionen Beschäftigte bei der Mindestlohnanpassung außen vor.

Kommission sollte Diskussionen über Höhe des Mindestlohns verhindern

Das Warum ist nicht leicht zu verstehen. Eigentlich sollten immer neue Diskussionen über die Höhe des Mindestlohns durch die Einsetzung der Kommission verhindert werden. Damit die Parteien sich nicht vor jeder Wahl ein Wettbieten um den höchsten Mindestlohn liefern, entscheiden Gewerkschaften und Arbeitgeber in einem paritätisch besetzten Gremium und auf Basis allgemein zugänglicher Daten über die Höhe der Untergrenze. Die Kommission hat für sich festgelegt, dafür nachwirkend den Tarifindex für Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen heranzuziehen.

So weit, so klar. Doch für die erste Anpassung hat die Kommission entschieden, nur die Tarifentwicklung von Januar 2015 bis Juni 2016 zu berücksichtigen, obwohl eigentlich ein Zeitraum von zwei Jahren nachgezeichnet werden müsste. Das Jahr 2014 mit seinen hohen Tarifabschlüssen fällt mit der Begründung unter den Tisch, der Mindestlohn gelte ja erst seit 2015.

Dass nun auch die großen Abschlüsse aus 2016 nicht einfließen, liegt am von der Politik gesetzten Termin, bis Ende Juni entscheiden zu müssen. Bis dahin spiegeln sie sich nicht im Tarifindex wider. „Wir können im Index nur tatsächlich ausgezahlte Tariferhöhungen abbilden“, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Und das ist in den großen Branchen bisher nicht geschehen. Die Metaller erhalten ihre Erhöhung zum 1. Juli. Auf dem Bau und im öffentlichen Dienst laufen noch die Erklärungsfristen, in denen Tarifpartner den Abschluss annehmen müssen. Obwohl die Tariferhöhung im öffentlichen Dienst rückwirkend ab März gilt, können etwa die Kommunen sie frühestens im Juni auszahlen, wie mehrere Städte bestätigten.

Mindestlohn könnte auf 8,80 Euro ansteigen

Das Statistische Bundesamt wird kommende Woche den Tarifindex um die Mai-Daten aktualisieren. Dies dürfte der letzte Stand sein, den die Kommission berücksichtigen kann. Bis April ist der Index gegenüber Dezember 2014 um 3,0 Prozent gestiegen. Danach würde der Mindestlohn um 16 Cent auf 8,76 klettern, mit dem Mai könnte er an 8,80 herankommen. Hätte man die Jahre 2014 und 2015 berücksichtigt, stünde mit 8,97 Euro ein weit größerer Sprung an.

Umso höher müsste – eigentlich – die zweite Anpassung ausfallen, die 2019 ansteht. Dann werden zwei volle Tarifjahre berücksichtigt, auch die nun verpassten Abschlüsse. Sollte die wirtschaftliche Lage bis dahin aber Zweifel aufkommen lassen, ob ein zu hoher Mindestlohn Arbeitsplätze gefährden könnte, muss sich die Kommission nicht an den Tarifindex halten.

Dieser Text ist zuerst auf derwesten.de erschienen.