Meseberg. Bei der wohl letzten Klausurtagung der Koalition wurde viel über Vergangenes gesprochen, dabei liegt noch ein Jahr vor der Regierung.

Es ist noch ein Jahr hin bis zur Bundestagswahl. Aber Sigmar Gabriel (SPD) blickt schon zurück: Auf drei Jahre Große Koalition. Sie habe gerade auf Feldern „Handlungsfähigkeit gezeigt, die wir eigentlich gar nicht erwartet haben, dass sie auf uns zukommen“, erinnert sich der Vize-Kanzler. In seiner Analyse schwingt viel Stolz mit. Es ist der Stolz eines politischen Handwerkers.

Allein, war es das? Was haben die Koalitionäre geschafft, was wollen sie angehen, was bleibt unerledigt? Es gibt viel zu tun, packen wir es nicht an? Eine vorläufige Bilanz.

Mit den Feldern der Handlungsfähigkeit meint der SPD-Chef die Euro-Krise und natürlich den Ansturm von einer Million Flüchtlingen im letzten Jahr. Es sind zwei Aufgaben – genauer: Herausforderungen –, die keiner der Partner auf der Rechnung haben konnte und die nicht im Koalitionsvertrag standen.

Angela Merkel (CDU) guckt ihren Stellvertreter schräg von der Seite an. Was denkt die Kanzlerin gerade, während Gabriel aus dem Nähkästchen plaudert? Ob dem SPD-Mann klar ist, dass er mit seiner Rückschau die große Erzählung zur Klausur des Kabinetts relativiert?

Die SPD hat ihre Erfolge, die CDU hat Merkel und die schwarze Null

Angereist waren die Minister nämlich, um in Schloss Meseberg – etwa 70 Kilometer vor Berlin – nicht für eine Rückschau, sondern um über zwei Zukunftsfragen zu beraten: Über die Digitalisierung der Gesellschaft und das Integrationsgesetz, das am Mittwoch dann auch beschlossen wurde. Es ist die persönliche Devise der Kanzlerin, dass in der Ruhe die Kraft liegt. Die Klausur in der Mark Brandenburg bot die Chance, bei diesen zwei Fragen in die Tiefe zu gehen. „Uns hat es auch ganz gut getan“, sagt Merkel über die Landpartie. Konstruktiv und produktiv sei es gewesen, „man konnte auch mal lachen“, erzählt sie. Die Regierungschefin ist zufrieden. Aber dann kommt der SPD-Vorsitzende und erzählt, wie sie am Vorabend beim Grillfest des Kabinetts zurückgeschaut haben, bilanziert hier, beteuert dort, dass man keine „lange Latte“ von Problemen, von offenen Fragen oder Konflikten habe, weil vieles doch längst abgearbeitet sei. Weil „zur Überraschung anderer“ – in erster Linie meint Gabriel damit voller Sarkasmus die Medien – die Koalition „ganz normal“ gearbeitet hätte. 90 Prozent dessen, was eine Regierung tue, sei doch Handwerk, erläutert Gabriel. Und „sauberes Handwerk“ hätten die Minister abgeliefert.

Kann der Wahlkampf jetzt kommen?

Rückblick: Die Sozialdemokraten haben ihre Punkte gemacht. Da ist erst mal der Mindestlohn, ein Kernanliegen. Da hat die Partei gegenüber den Gewerkschaften „geliefert“. Das gilt erst recht für die Rente mit 63 und für das Tarifeinheitsgesetz. Das regelt, dass nur der Tarifvertrag jener Gewerkschaft gilt, die zum Zeitpunkt des jüngsten Tarifabschlusses im Betrieb die meisten Mitglieder hatte. Auf Betreiben der Sozialdemokraten wurden zuletzt ferner Neuregelungen für die Werkverträge und Leiharbeit auf den Weg gebracht. Vorzeigeministerin: Andrea Nahles. Ebenfalls auf die SPD geht die Mietpreisbremse zurück. Ihre Wirkung ist allerdings umstritten. Viele halten sie für ein Placebo, für „weiße Salbe“. In der „Meseberger Erklärung“ zur Integration ist die Handschrift der Sozialdemokraten ebenfalls klar erkennbar. Für Gabriel ist das Integrationsgesetz, „sozusagen das Einwanderungsgesetz 1.0“ – auch ein langjähriger SPD-Wunsch.

Und die Union? Was hatte sie? Die PKW-Maut ist zum Leidwesen der CSU bis heute politisch nicht wasserdicht. Die Flüchtlingspolitik hat die Schwesterparteien CDU und CSU entzweit, und die zahlreichen Euro-Rettungspakete der letzten Jahre hätte die Kanzlerin vermutlich aus eigener Kraft kaum durchsetzen können. Die eigenen Leute rebellierten. Was also geht zweifelsfrei auf das Konto der CDU? Die Frauenquote, freilich gemeinsam mit der SPD erstritten, ausgeglichene Finanzen – die Null ist schwarz –, schließlich die diversen Anti-Terror-Pakete. Recht und Ordnung – eine konservative Kernkompetenz. Vor allem aber hatte die CDU: Ihre Kanzlerin.

Merkel bleibt bei kurzen Antworten

Eigentlich könnte jetzt der Vorhang fallen. Letzter Akt – Meseberg. Es bleibt nur noch ein gutes Jahr bis zur Bundestagswahl. Bald kündigt sich der Wahlkampf an. Und jeder weiß, was das bedeutet: Profilierung. Parteiengezänk. Es stellt sich die Frage, ob für beide Partner gelten wird, was Gabriel in Meseberg über das Integrationsgesetz – und bezogen auf die Migranten – gesagt hat: „Du kannst was aus deinem Leben machen, wenn Du dich anstrengst, wenn Du dich reinhängst“. Die Koalitionäre haben sich reingehängt. Aber werden sie dafür auch von den Wählern 2017 belohnt?

Als sie auf den Wahlkampf angesprochen, nach einer möglichen Fortführung der Großen Koalition gefragt wird, klingt Merkels Antwort floskelhaft und uninspiriert. Ist es Zufall, dass sie danach umgehend die Pressekonferenz beendet und zum Hubschrauber eilt, der vor dem Schloss für sie bereit steht? Sie will weiter nach Berlin zum Flughafen und von dort nach Japan zum G-7-Gipfel.

Der Griechenland-Deal sorgt für große Erleichterung im Kabinett

Die Kanzlerin hat sich in Meseberg auf die offizielle Agenda konzentriert und war arg konsterniert, als sie nach den „Botschaften“ der Klausur gefragt wurde. 15 Minuten lang hatte sie über die Zukunftsthemen geredet – und dann so eine Frage! „Immer bitter“, sagt sie. Aus ihrer Sicht gibt es noch viel zu tun. „Ich kann Ihnen nur sagen“, beteuert sie. „wir sind noch gut beschäftigt bis zum Ende der Legislaturperiode.“ Erst mal werden die Digitalisierung und das Integrationsgesetz ihre und künftige Regierungen auf Trab halten. „Es gib nicht viele Themen, die noch größer sind“, pflichtet Gabriel bei. Bei der Digitalisierung glaubt er: „Das wird die Jobs der Zukunft sichern, wenn wir es gut machen.“ Die angestrebte flächendeckende Versorgung in Deutschland mit einem Internet mit einer Downloadgeschwindigkeit von 50 Megabit bis zum Jahr 2018 ist für ihn nur ein gutes Zwischenziel. Alle wüssten, „das eigentliche Ziel sind Gigabit-Netze“.

Zu den Zukunftsaufgaben, die diese Koalition politisch überdauern werden, kommen die Beschlüsse hinzu, die erst noch umgesetzt werden müssen. Das Anti-Terror-Paket und die bessere Ausstattung der Bundeswehr sind Beispiele dafür. Ein Fiasko droht auf internationaler Ebene: Der Flüchtlingsvertrag mit der Türkei steht auf der Kippe. Die Klärung der Unstimmigkeiten zwischen EU und Türkei werde noch Zeit brauchen, räumt Merkel ein, aber die Bereitschaft dazu sei da, „insofern bin ich nicht besorgt“. Ein Lichtblick: Am Vorabend war auf EU-Ebene gelungen, die nächsten Hilfen für Griechenland sicherzustellen. Es ist Gabriel, der an diesem Morgen den Erfolg von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) herausstreicht und der erzählt, dass die Meldung auf der Kabinettssitzung mit „großer Erleichterung“ aufgenommen worden sei. National gibt es eine Reihe von unvollendeten Werkstücken. Die Energiewende muss fortgesetzt, eine gemeinsame Linie zum Streitthema Glyphosat gefunden werden, innerhalb der Koalition steht eine Einigung über die Reform der Erbschaftsteuerreform noch aus. Die CSU ist unzufrieden.

Die SPD war pflegeleicht, von der CSU lässt sich das nicht sagen

Man merkt sogleich, dass in Meseberg mit dem CSU-Chef und Ministerpräsidenten Horst Seehofer ein wichtiger politischer Spieler fehlte. Mit ihren Ministern kann Merkel ein Grillfest genießen und bis weit nach Mitternacht zusammensitzen – mit Seehofer ist seit Langem nicht gut Kirschen essen. Zur Wahrheit der letzte Jahre gehört, dass die SPD ihre Punkte gemacht hat, aber auch – gerade deshalb – für die Kanzlerin der pflegeleichtere Partner war.

Im Vergleich zur Koalitionsrunde war das Kabinett zumeist eine Oase der Ruhe und Harmonie. Ende Juni steht eine Klausur der Führungen der CDU und CSU an. Für Merkel wird es ein weitaus konfliktträchtiger Termin. Irgendwann wird sie – wie Gabriel – klären müssen, ob sie wieder kandidieren will. Irgendwann wird sie als Parteichefin, die nächste Bundespräsidentenwahl angehen müssen. Ob sie das noch gemeinsam händeln können, Gabriel und Merkel? Oder ist dann schon unwiderruflich Wahlkampf?