Ankara . Das türkische Parlament macht brav, was Präsident Erdogan will. Wenn Abgeordnete ihn kritisieren, droht ihnen nun die Strafverfolgung.

Offiziell war das Votum geheim, aber für die Abgeordneten der Regierungspartei AKP war das nur Makulatur. Die türkischen Parlamentarier haben sich ihrem Präsidenten gebeugt und sich selbst ins Abseits befördert – und zwar ganz offen: Als am Freitag im Parlament über die temporäre Aufhebung der Immunität von 138 Parlamentariern abgestimmt wurde, zeigten sie ihre Stimmzettel herum. Eine Abgeordnete der Oppositionspartei HDP will beobachtet haben, dass sozialer Druck ausgeübt wurde – aus Angst vor heimlichen Ausreißern. Diese Sorge war unberechtigt: 373 von 550 Stimmberechtigten waren dafür.

Abgeordneten der HDP droht nun die Strafverfolgung

Damit ist der Weg frei für Erdogan, damit darf die Staatsanwaltschaft 667 Anzeigen nachgehen, die offenbar vorliegen. Besonders betroffen sind mit 405 Anzeigen 50 Mitglieder der linksliberalen, pro-kurdischen Partei HDP und ihr Parteichef Selahattin Demirtas. Auffällig ist, dass 99 der 100 Anzeigen, die im vergangenen Monat eingegangen sind, gegen Mitglieder der Opposition gerichtet seien, erklärt Ali Seker von der Traditionspartei CHP – für ihn ein Indiz, dass die Justiz nicht unabhängig ist. Noch etwas sticht ins Auge: Obwohl unzählige Korruptionsvorwürfe gegen Mitglieder der Regierungspartei AKP im Raum stehen, finden sich dazu kaum Ermittlungen.

Stattdessen sind es vor allem Vergehen nach den Antiterrorgesetzen sowie im Rahmen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu verhandelnde Straftaten, wegen derer sich die Opposition verantworten muss. Es geht also nicht darum, Schmiergelder zu verhindern, Mörder hinter Gitter zu bringen oder bewaffnete Terroristen auszuschalten. Stattdessen sollen, wie bereits bei den Prozessen gegen Journalisten oder Akademiker, kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden.

Meinungsäußerung schon Straftat

Gegen die Parlamentarier kommen Paragrafen zur Anwendung, durch die bereits eine simple Meinungsäußerung als Straftat interpretiert werden kann. Dabei handelt es sich übrigens um genau die Paragrafen, die meist Journalisten zum Verhängnis werden und deren Änderung die Europäische Union seit Jahren anmahnt. 2013 hat Recep Tayyip Erdogan, damals Ministerpräsident, mit seiner Unterschrift sogar zugestimmt. Heute will er davon nichts mehr wissen und beschuldigt die EU, ihn erpressen zu wollen. Die Änderung der Antiterrorgesetze, insbesondere die Definition des Terrorbegriffs, wurde als Bedingung für die Visafreiheit für türkische Staatsbürger gestellt.

Aber in Erdogans Pläne zu Ausbau und Zementierung seiner Macht passt das nicht. Sein Wunschtraum ist eine Präsidialdemokratie mit einem starken Führer, dessen Entscheidungen nicht infrage gestellt werden. Für die Hauptrolle in diesem Szenario übt Erdogan schon lange und hat dabei bereits einen Großteil seiner Konkurrenten und Gegner außer Gefecht gesetzt.

Möglich ist dies nicht zuletzt dadurch, dass in den vergangenen Monaten der Bürgerkrieg im Südosten des Landes erneut aufgeflammt ist. Dabei ist es ein Paradoxon der türkischen Gesellschaft, dass die Überzeugung herrscht, diese Gewalt könne mit Gegengewalt besiegt werden.

„Opposition notfalls auch aus dem Gefängnis“

Laut der aktuellen Umfrage des Meinungsinstituts A&G würden nur 33,4 Prozent der Befragten auf eine friedliche Lösung bauen, während 37,1 Prozent den Krieg im Inneren befürworten. 29,5 Prozent glauben, dass eine Kombination aus Verhandlungen und Waffengewalt Frieden bringen könnte. Die Umfrage verrät außerdem, warum Erdogan sich seinen harten Kurs gegen Europa erlauben kann: 78,1 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, dass der Konflikt mit den Kurden nicht hausgemacht ist, sondern „fremde Mächte“ die PKK lenken. Hauptverdächtige sind dabei die USA.

Die Oppositionsarbeit wird für sie noch schwieriger: Selahattin Demirtas und Figen Yuksekdag (rechts), Vorsitzende der HDP, sprechen nach der Parlamentssitzung zur Presse.
Die Oppositionsarbeit wird für sie noch schwieriger: Selahattin Demirtas und Figen Yuksekdag (rechts), Vorsitzende der HDP, sprechen nach der Parlamentssitzung zur Presse. © REUTERS | UMIT BEKTAS

In einer Rede kommentiert Erdogan die Abstimmung mit den Worten: „Mein Volk möchte keine schuldigen Parlamentarier in diesem Land im Parlament sehen. Und schon gar nicht Unterstützer einer separatistischen Terrororganisation möchte man im Parlament sehen.“ Dabei haben sich Demirtas und seine Parteikollegen bewusst gegen den bewaffneten Weg entschieden. Noch sind sie aus dem Parlament nicht verbannt. Erst nach einer rechtskräftigen Verurteilung verlieren sie ihr Mandat. Ayhan Bilgen, Sprecher der HDP, erklärte, das Parlament sei „nicht der einzige Ort“, an dem Politik betrieben werden könne. Zuvor hatte Parteichef Demirtas angekündigt, man werde notfalls auch aus dem Gefängnis heraus weiter Opposition betreiben.

Nun kommt es darauf an, dass die EU nicht nur ihre Bedenken zum Ausdruck bringt, sondern auch Druck ausübt. Einen Anfang machte Angela Merkel über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert. „Die Bundesregierung erfüllt die zunehmende innenpolitische Polarisierung in der Türkei mit Sorge“, erklärte er noch am Freitag. Daher werde die Bundeskanzlerin selbst bei ihrem Treffen mit Erdogan am kommenden Montag die Aufhebung der Immunität zum Thema machen.