Stuttgart/Berlin . Bei der Ministerpräsidentenwahl in Baden-Württemberg gingen einige von der Fahne. Der Grüne Winfried Kretschmann nahm’s ganz gelassen.

Gerlinde Kretschmann fällt ihm stürmisch um den Hals, in der Hand einen Blumenstrauß, den sie nicht ablegen konnte. Auch Ehemann Winfried ist erleichtert. „Es gab ja einige Turbulenzen“, sagt er. Gerade ist der 67-Jährige zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg gewählt worden – für den Grünen schon das zweite Mal, was den besonderen Reiz ausmacht.

Es beweist, dass es kein Betriebsunfall war, dass seine Partei im Südwesten die Nummer eins ist und für die nächsten fünf Jahre nicht mehr mit der SPD, sondern mit der CDU als Juniorpartner regieren wird. Das macht die Wahl vom Donnerstag so einmalig für Grüne. Und so gewöhnungsbedürftig für Christdemokraten.

„Es wird heute laufen“, hatte die Landesmutter prophezeit, „die wissen auch, was auf dem Spiel steht.“ Die, gemeint ist die CDU. Seit Tagen ging es bei den Christdemokraten turbulent zu. Als das Ergebnis der Kretschmann-Wahl bekannt gegeben wird, stellt sich für einen Moment Schweigen ein, die Sekunde der Kopfrechner: 82 Stimmen erhält Kretschmann, über 89 Mandate verfügt die Koalition, eine (grüne) Abgeordnete fehlt krankheitsbedingt. Folglich startet das Bündnis unter seinen Möglichkeiten.

Die CDU fremdelt mit den Grünen

Keine Frage ist in Stuttgart, dass sich die CDU schwertut; unklar aber ist, ob sie mehr mit Kretschmann und seinen Grünen oder mit Thomas Strobl fremdelt. Der CDU-Landeschef ist der starke Mann, ein Re-Import aus der Bundespolitik, in der Bundespartei Merkels Vize, Bundestagsabgeordneter. Die Mehrheit der Fraktion hatte eine Spitzenkandidatur von Guido Wolf befürwortet, der die Wahl verlor und künftig im Kabinett sitzt – was kaum kaschiert, dass Strobl ihm den Rang aufgelaufen hat. Strobl, der streng genommen nicht einer von ihnen ist, der kein Landtagsmandat hat.

Während die CDU an sich selbst leidet, legt sich beim Regierungschef die Anspannung. Sie ist schon nicht sichtbar, als er neben Landtagspräsidentin Muhterem Aras den Amtseid ablegt: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.“ Eine Muslima nimmt einem Grünen die religiöse Formel ab. Zeiten ändern sich.

CDU-„General“ Tauber: Grün-Schwarz bleibt die Ausnahme

Kretschmann ist zufrieden, „dass ich es gleich im ersten Wahlgang geschafft habe“. Er weiß, dass es anderen anders ergangen ist, erst neulich seinem Amtskollegen aus Sachsen-Anhalt. Er weiß auch, dass die Öffentlichkeit in den nächsten Jahren nie mehr so darauf gucken wird, ob Grün-Schwarz die Mehrheit hat. Die Regierungsfraktionen stellen 89 (Grüne 47, CDU 42) von 143 Abgeordneten. Eine breite Basis.

Die ersten Glückwünsche aus Berlin kommen von den Grünen. Das Konrad-Adenauer-Haus ist zögerlicher. „Zweifelsohne schwierig“ sei das Wahlergebnis vom 13. März gewesen, sagt CDU-Generalsekretär Peter Tauber dieser Redaktion. Grün-Schwarz bleibe eine Ausnahme. „Als Volkspartei haben wir natürlich den Anspruch, Regierungen anzuführen“, betont Tauber.

Die „Phantomschmerzen“ der Union

Die CDU weiß aus eigener Anschauung, wie schwer es Juniorpartner in einer Koalition haben. Der Nummer eins fällt die ganze Macht, zumindest die volle Aufmerksamkeit zu, so ergeht es Angela Merkel in der Bundesregierung und Kretschmann in der Villa Reitzenstein, dem Sitz der Ministerpräsidenten, hoch oben über Stuttgart. Seine neuen Pappenheimer scheint er gut zu kennen. „Das sind jetzt einige Phantomschmerzen wegen der Wahlniederlage und vielem anderen“, wehrt Kretschmann ab, als er auf die Unstimmigkeiten bei der CDU angesprochen wird. „Das wird sich schon wieder geben, aber nur, wenn wir verlässlich und vertrauensvoll zusammenarbeiten.“

Schwer zu sagen, wie groß der Harmoniefaktor im Regierungsalltag sein wird. Außerhalb des Schwabenlands beflügelt das Bündnis schon jetzt die Fantasie. Nach Hessen, wo die Grünen als Juniorpartner mit der CDU regieren, ist es der zweite Testlauf. Eine schwarz-grüne Koalition ist 2017 im Bund möglich.

Es begann mit der „Pizza-Connection“

An einer Koch-und-Kellner-Rollenbesetzung wie in Stuttgart hatten beide Seiten nicht im Traum gedacht, als Anfang der 80er-Jahre junge Politiker beider Parteien beim Italiener in Bonn die Köpfe zusammensteckten. Der Gesprächsfaden ist nie abgerissen, die Vorlieben der „Pizza-Connection“ für mediterranes Essen blieben. Der „Stern“ schaute sich schon im Restaurant in Berlin um, wo Schwarze und Grüne heute tafeln.

Dass Kretschmann in der Hauptstadt stärker mitmischen will, ist keine Frage. Warum hätte er sonst am Vorfeld seiner Wahl in der „FAZ“ die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel kritisiert? „So groß mein Respekt vor der Bundeskanzlerin ist. Man muss in längeren Linien denken.“ Es fehle der Bundesregierung „manchmal schon das Proaktive“. Ihm nicht. Das weiß man von Ehefrau Gerlinde. Nach der Wahl gehe die Arbeit für ihn erst richtig los, zu Hause. Über Pfingsten gelte es für Kretschmann, im Garten zu arbeiten und den Kompost umzusetzen.