Berlin. Fünf Jahre nach dem Tod des al-Qaida-Chefs Osama bin Laden bedrohen neue Dschihadisten die Welt. Und sie verfolgen neue Strategien.

Das Foto schreibt Geschichte: US-Präsident Barack Obama sitzt leger in Polohemd und Jäckchen im vollen „Situation Room“ des Weißen Hauses in Washington. Neben Obama Militärs und Regierungsmitglieder, sie alle starren auf einen Bildschirm, der den Einsatz von Spezialeinheiten gegen den Staatsfeind Nummer eins live aus dem fernen Pakistan überträgt. Es ist der 2. Mai 2011. US-Soldaten erschießen den Anführer der Terrorgruppe al-Qaida, Osama bin Laden, in seinem Versteck. Das Bild inszeniert den schlagkräftigen Westen im Kampf gegen Terror.

Das bekannte Bild aus dem „Situation Room“ des Weißen Hauses in Washington: Barack Obama, Regierungsmitglieder und Militärs verfolgen den Einsatz, an dessen Ende Osama bin Laden für tot erklärt wurde.
Das bekannte Bild aus dem „Situation Room“ des Weißen Hauses in Washington: Barack Obama, Regierungsmitglieder und Militärs verfolgen den Einsatz, an dessen Ende Osama bin Laden für tot erklärt wurde. © dpa | Pete Souza

Die gute Nachricht: Seit 2001 hat es keinen ähnlich komplexen und tödlichen Anschlag wie al-Qaidas Angriff auf New York gegeben: mit fast 3000 Toten. Die schlechte: Fünf Jahre nach Bin Ladens Tod sind neue Terroristen da – allen voran die Extremisten des selbst ernannten „Islamischen Staates“. Sie attackieren den Westen mit neuen Strategien, sie nutzen andere Waffen und Kommunikationswege. „Der IS geht strategischer vor, als bisher von anderen Terrororganisationen bekannt“, sagte Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen bei einer Tagung des Dienstes in Berlin. Der IS will ein Staat sein – der Terror ist Teil seiner Politik. „Auch Deutschland ist ein Ziel“, sagt Maaßen.

Neue Terroristen, neue Strategien

Und auch al-Qaida ist fünf Jahre nach dem Tod bin Ladens nicht am Ende. Im Gegenteil: In den Maghreb-Staaten breitet sich die Gruppe aus, in Staaten wie Somalia schließen sich ihr neue Radikale an, etwa die al-Shabaab-Milizen. Und die al-Qaida-Terroristen begehen weiter Anschläge – auch im Westen, wie Anfang 2015 der Angriff auf die französische Redaktion von „Charlie Hebdo“. Das Bild von Obama aus dem Weißen Haus – es war auch die kurze Illusion von einer Welt, die von den Sicherheitsbehörden unter Kontrolle ist. Klar scheint nun vielen Experten: Der IS hat al-Qaida nicht ersetzt. Sie existieren parallel. Es sei eine neue, gefährliche Konkurrenz um die Vorherrschaft des globalen Dschihad entstanden, warnt etwa der niederländische Geheimdienst-Chef Rob Bertholee. Beispiel: Paris, Januar 2015. Noch als die zwei al-Qaida-Attentäter auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ auf der Flucht sind, stürmt Amedy Coulibaly einen jüdischen Supermarkt in Paris. Er bekennt sich per Telefon zum IS.

Mit Bin Ladens Tod hatte der Terror sein Gesicht verloren. Er hatte sich laut Experten schon Jahre zuvor zurückgezogen aus Dschihad-Planungen, al-Qaida agierte in unabhängigen, globalen Terrorzellen. Doch galt er als Ikone einer Unbesiegbarkeit. Nun führen neue Persönlichkeiten den Dschihad an – vor allem Abu Bakr al-Baghdadi. Wie sehr er in Terror-Planungen eingebunden ist, ist unklar. Doch seine Inszenierung als „IS-Kalif“ mobilisiert die Szene.

IS nicht überall auf dem Rückzug

Der IS ist in einigen Gebieten in Syrien und Irak auf dem Rückzug. Die Gegenangriffe von Kurden und der US-geführten Allianz kosten den Terroristen Kämpfer, Infrastruktur und Geld. Doch in anderen Staaten ist der IS auf dem Vormarsch: Libyen, Nigeria (durch die Allianz mit Boko Haram), Asien. Bin Ladens al-Qaida hatte seine Basis im zerfallenen Staat Afghanistan. Nun zerfallen andere Staaten. Und der Terror findet neuen Nährboden. Für Experten wie Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, gilt daher: Terrorismus-Bekämpfung beginnt beim Aufbau von funktionierenden Staaten in Nahost. Und auch viele Militärs und Geheimdienstler betonen: Terrorismus lässt sich nicht nur mit Bomben bekämpfen – im Gegenteil. So benötigen die Sunniten als Minderheit im Irak eine Perspektive zur politischen Teilhabe – bisher sind sie in den schiitisch dominierte Regierung kaum eingebunden. Und radikalisieren sich.

Galt bis zu seinem Tod 2011 als weltweit meistgesuchter Terrorist: Osama Bin Laden.
Galt bis zu seinem Tod 2011 als weltweit meistgesuchter Terrorist: Osama Bin Laden. © dpa | -

Eine Perspektive benötigten auch Jugendliche in den europäischen Staaten, sagt etwa die Staatssekretärin des Innenministeriums, Emily Haber. 4500 Europäer sind bereits ausgereist in Richtung Syrien und Irak, mehr als 800 aus Deutschland – sie haben sich abgewandt von Demokratie und Grundgesetz. Nicht alle werden zu Terroristen. Doch bereits 20 Terroranschläge in Syrien und Irak gehen auf das Konto von Deutschen. Die Frequenz der Attacken steigt. Auch in Europa.

Globale Anti-Terror-Strategie wächst

Und so nimmt die Debatte über den Terror nach Bin Laden auch die Salafisten in Deutschland in den Blick. Keine Szene wächst so schnell, in vier Jahren hat sie sich verdoppelt. Derzeit hat sie mehr als 8600 Anhänger. Eine winzige Minderheit unter den fünf Millionen Muslimen hierzulande. Nicht alle Salafisten sind politisch, die wenigsten laut Staatssekretärin Haber gewaltbereit. Und doch warnen Verfassungsschützer: Terrorgefahr geht vor allem von dieser Szene aus. Sie ist radikal, sie ist jung, sie trifft sich in Chaträumen im Internet oder in versteckten Kellermoscheen. Während bin Laden immer seltener schmalspurige Videos aus seinem Versteck sendete, arbeitet der IS mit einer professionellen digitalen Propaganda. Seine Videos erreichen um ein Vielfaches mehr potenzielle neue Anhänger.

Mit dem IS ist der Dschihad so auch stärker zu einer globalen Bewegung geworden. Für die Sicherheitsbehörden ist sie oft undurchsichtig. Bei Anschlägen wie in Paris schlagen sie in kleinen Teams zu: ausgebildete Dschihadisten aus Syrien Seite an Seite mit einheimischen Radikalen. Über kriminelle Netzwerke kommen sie an Sprengstoff und Waffen. Die Behörden standen nach 2001 stark in der Kritik. Fehlende internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste führte zu Sicherheitslücken. Die EU-Staaten legten seitdem gemeinsame Datenbanken an, auch eine Anti-Terror-Datei, Geheimdienste stellten Islamismus-Experten ein. Im „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum“ vernetzen sich Polizei und Verfassungsschutz. Die Ausreise in ein Terror-Camp wurde unter Strafe gestellt, die Vorratsdatenspeicherung erweitert. Gemeinsam mit neuen Projekten zur Prävention beginnt eine globale Anti-Terror-Strategie gewachsen. Doch Experten warnen: Der Terrorismus hat sich gewandelt. Von Bin Laden zu Baghdadi, von al-Qaida zum IS. Dschihadisten passen sich an. Deutschland, sagen selbst Verfassungsschützer, hatte bisher auch eines: Glück.