Gaziantep. Angela Merkel hat in der Türkei ein Flüchtlingslager besucht. Es war kein Besuch für die Kameras, sondern vielmehr ein Arbeitsbesuch.

Wenn es denn überhaupt einen Moment des Rückzugs, der Intimität gibt – nach dem Rundgang, nach dem Besuch einer Schule –, dann jetzt im Wohncontainer: Die Journalisten müssen draußen bleiben, als sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit einer syrischen Familie im Flüchtlingslager „Nizip 1“ unterhält. Um sich selbst ein Bild zu machen, ist sie am Samstag die 1943 Kilometer nach Gaziantep im Südosten der Türkei geflogen, mehr als drei Stunden in einem Airbus 319. Am Ende des Tages – für Merkel und ihre kleine Delegation heißt das: weit nach Mitternacht – ist die Kanzlerin länger in der Luft gewesen als vor Ort.

Sie ist auch wegen der Bilder hier. Die Deutschen sollen mitbekommen, dass der EU-Türkei-Vertrag in Gang gekommen ist, dass Merkel mit der Lösung der Flüchtlingskrise im Plan ist und dass ihr Lösungsansatz – Zusammenarbeit mit der Türkei – mühsam, aber richtig war. Monatelang hatte sie sich für die europäisch-türkische Lösung der Flüchtlingsfrage eingesetzt, zeitweise nahezu allein gegen alle.

Eigentlich ist Merkel nur Mitfahrerin

Der Stand der Dinge: Die Türkei macht Ernst im Kampf gegen die Schleuserbanden. Die Zahl der Flüchtlinge auf der sogenannten Balkanroute ist stark gesunken. Tatsache ist allerdings, dass die Zahlen für sich, aber nicht für Merkel sprechen. Daheim wird kleingeredet, dass die Türkei in Vorleistung gegangen ist und die Abhängigkeit von der Regierung in Ankara überbetont. Sei es drum. Merkel flog trotzdem in die Türkei.

Streng genommen, ist die Kanzlerin Mitfahrerin. Es ist eine europäische Mission. Deswegen muss sie am Flughafen kurz die Ankunft des Europäischen Ratspräsidenten Donald Tusk und des Vizepräsidenten der EU-Kommission, Frans Timmermans, abwarten. Tusk hat den Vertrag ausgehandelt, in dem sich die Türkei verpflichtet, Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen. Kommende Woche beginnt eine neue Phase, weil dann die Abschiebung von Asylbewerbern ansteht. Die paar Hundert Menschen, die bisher in die Türkei zurückgebracht worden waren, hatten keinen Asylantrag gestellt. Timmermans war von Anfang an im Krisenmanagement involviert. Zusammen mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davotoglu geht es im Bus zum Flüchtlingslager. Die Idee könnte glatt von Merkel sein: Keine Minute verlieren, schon die Fahrzeit für Gespräche nutzen.

Fall Böhmermann spielt kaum eine Rolle

Vor ihrer Abreise war sie dazu aufgefordert worden, die Einhaltung der Menschenrechte und der Pressefreiheit anzumahnen. Den Fall des Satirikers Jan Böhmermann, der vom türkischen Präsidenten wegen Beleidigung angezeigt, hält sie jetzt fern von sich. Sie hat Fehler gemacht und es am Vorabend der Reise zugegeben, selten genug, nun liegt der Fall bei der Staatsanwaltschaft. Und dort soll er bleiben.

Jeder EU-Regierungschef hätte mitfliegen können. Keiner wollte. Wenn man es genau besieht: auch ein politisches Statement. Nur Merkel fühlte sich angesprochen oder wollte es genau wissen. Wenn sie ein Problem zu lösen hat, kniet sie sich in die Materie rein. Wenn eine Gesundheitsreform ansteht, mutiert sich zur Expertin der Krankenversicherung. Und genauso detailversessen ging sie seit vergangenem Herbst die Flüchtlingskrise an.

Das Lager ist eine Stadt für sich – mit Schulen und Krankenstationen

Nach einer guten halben Stunde Busfahrt ist „Nizip“ in Sicht, das Flüchtlingslager. Es liegt an einem Stausee, umringt von Bergen. Den Türken war der Besuch wichtig. „Nizip“ ist ein Vorzeigeprojekt, ein Symbol dafür, wie viel das Land für die syrischen Flüchtlinge getan hat. Mindestens 2,5 Millionen Syrer leben in der Türkei, in „Nizip 1“ etwa 10.000, weitere 5.000 in „Nizip 2“. Es gibt viele Lager in der Grenzregion zu Syrien. Soweit das Auge reicht: helle Zelte und Container, insgesamt 1858 Einheit, in langen Reihen gerade angeordnet.

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Das Lager ist eine Stadt für sich, mit Schulen, Krankenstationen, Apotheken oder Supermärkten. Jeder Flüchtling erhält eine Art „Kreditkarte“, jeden Monat aufgeladen mit einem Guthaben von 27 Dollar. Mit dem Geld kann jeder nach Gusto einkaufen, buchstäblich. An vielen Zelten sieht man Satellitenantennen, in dem Container gibt es Kochplatten, Kühlschränke und eine Heizung, es kann kalt werden in der Gebirgsregion.

Bisher nur wenig Gelder ausgezahlt

Gaziantep ist die Hauptstadt der gleichnamigen Region und hat 1,7 Millionen Einwohner, nicht eingerechnet sind die 500.000 Migranten. Merkel hat tatsächlich einen Hotspot der Flüchtlingskrise ausgesucht, wie Idomeni, nur anders: positiv.

In Flüchtlingslagern wie „Nizip“ sollen die EU-Hilfsmittel fließen, die zugesagten drei Milliarden Euro. Nach aktuellstem Stand sind erst 90 Millionen Euro ausgezahlt worden, aber dem Vernehmen nach werden Projekt in Höhe von weiteren 837 Millionen bis Juli ins Auge gefasst.

In „Nizip“ und anderswo kooperiert die EU demonstrativ mit Nicht-Regierungsorganisationen – das schafft Transparenz. Auf eine EU-Initiative geht auch das Kinderschutzprojekt zurück, das Merkel am frühen Abend besucht. Die Fotos mit Kindern sind immer ein Muss, ein Klassiker der Politik und an diesem Sonnabend sogar das Gebot der Stunde. Am Sonnabend war in der Türkei der offizielle Kindertag.

Nun muss die EU selbst liefern

Bisher hat die Türkei getan, wozu sie sich zur Bewältigung der Flüchtlingskrise verpflichtet hatte. Nun soll die EU Zusagen einhalten, vor allem die versprochene Visa-Freiheit. Sie wurde den Türken zugesagt, zum Juni in Aussicht gestellt, aber an Bedingungen geknüpft. Ein Punkt ist die Beendigung der Ungleichbehandlung von Flüchtlingen: Menschen aus Syrien genießen Schutz, Iraker und Afghanen nicht. Das soll sich ändern.

Der Eindruck ist, dass die Türken alle Bedingungen termingerecht erfüllen werden. Aber Deutschland verlangt von den Türken zusätzlich Pässe mit biometrischen Daten. Weil sie in der Türkei erst eingeführt werden müssen, wird die Visa-Freiheit monatelang nur auf dem Papier stehen, aber nicht einlösbar sein, vermutlich bis Jahresende.