Berlin. Der Staatsbesuch von Angela Merkel in der Türkei ist heikel. Hat die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise zu viele Zugeständnisse gemacht?

Es ist eine delikate Mission, die Angela Merkel (CDU) in die Türkei führt. Falls die Kanzlerin daran noch Zweifel hatte, müssten sie seit Freitag ausgeräumt sein. 80 Prozent der Deutschen glauben laut „Politbarometer“ nicht, dass die Türkei ein verlässlicher Partner ist; argwöhnen, wegen der Flüchtlingskrise nehme Merkel zu viel Rücksicht auf Präsident Recep Tayyip Erdogan. Wie ein Realitätscheck mutet der halbe Tag an, den sie heute in Südostanatolien verbringen will, inmitten von Flüchtlingen. Sind die Migranten sicher, haben sie ein besseres Leben in der Türkei? Gelingt es Merkel, den Verdacht auszuräumen, sie habe sich Erdogan ausgeliefert?

Die Kanzlerin ist der Türkei dankbar. Das Land hat über 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und die Schlepperbanden zurückgedrängt. Die Zahlen sprächen für sich, meint der Europäische Ratspräsident Donald Tusk, der Merkel begleitet: Im Januar kamen 70.000 Migranten über die Balkanroute, 50.000 im Februar, 30.000 im März, nur 4000 im April. Seit das EU-Türkei-Abkommen greift, hat Merkel Ruhe. Sogar für den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán – heftigster Widersacher in der Flüchtlingskrise – sind die Differenzen „Vergangenheit“. Berlin erkenne die „Wichtigkeit des Schutzes der EU-Außengrenzen“ an. „Ohne es zuzugeben, geht Europa mit den Flüchtlingen in Rede und Tat genauso um wie wir.“

Wie lange hält der Deal?

Bloß, wie lang hält der Deal? Wer fängt als Erster an zu tricksen? Die zugesagten drei Milliarden Euro an Hilfe sind bisher nicht zusammengekommen. Zwölf von 28 Mitgliedstaaten haben keinen Cent dazu beigetragen. Die säumigen Zahler sind Rumänien, Griechenland, Bulgarien, Polen, Belgien, Österreich, Litauen, Slowenien, Kroatien, Spanien, Zypern und Malta. Es fehlen 400 Millionen Euro. Von der Milliardenhilfe wurden bisher auch nur 77 Millionen Euro ausgezahlt.

Das Geld würde ohnehin nicht der türkischen Regierung überwiesen werden. Es soll in Hilfsprojekte fließen. Eines zugunsten von Frauen und Kindern besucht Merkel in der Stadt Gaziantep und außerhalb ein Flüchtlingslager, „um mir vor Ort ein Bild von der Situation zu machen“. Merkel will mit den Menschen reden. Es sind die Bilder, die das Wochenende prägen sollen.

Es ist ein Vorzeigeprojekt. Die Versorgung dürfte gut sein, die Sicherheitslage ist es weniger. Am Freitag schlugen auf den türkischen Ort Kilis unweit des Flüchtlingslagers vier Raketengeschosse ein – zwei Menschen sollen dabei getötet worden sein.

Scheitern könnte alles an der Visafrage

Das größte Risiko ist gleichwohl nicht die Sicherheit oder das Geld. Nicht die Reibereien zwischen Griechen und Türken bei Patrouillen in der Ägäis. Ebenso wenig, dass der Austausch von Flüchtlingen zwischen EU und Türkei schleppend verläuft; dass von den zugesagten 1550 Beamten der Grenzschutzagentur Frontex nur 340 vor Ort sind. Scheitern könnte der Deal aber an der Visafrage.

Zum 1. Juni erwartet die Türkei die Visafreiheit für ihre Bürger in der EU. Zuvor muss sie 72 Bedingungen erfüllen. Nach Angaben der EU hat sie nur 19 Punkte erledigt. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, den Merkel trifft, hält dagegen, sein Land sei fast allen Bedingungen nachgekommen. Am Montag drohte er, das Flüchtlingsabkommen platzen zu lassen, sollte die EU ihre Zusagen nicht einhalten.

Es gibt zwei trickreiche Varianten. Die EU kann die Visafreiheit hinauszögern. Hinter vorgehaltener Hand kursieren als Termine eher September oder Oktober. Und sie kann die Abmachung ganz oder teilweise rückabwickeln. Umgekehrt könnte Erdogan die Schlepper wieder gewähren lassen – für Merkel ein Dé­jà-vu-Er­leb­nis mit innenpolitischen Verwerfungen. Ihre Partei ist gerade in einem Umfragetief.

Am 4. Mai will die EU-Kommission einen Fortschrittsbericht zur Türkei vorlegen. Nicht zufällig begleitet ihr Vizepräsident Frans Timmermans die Kanzlerin nach Gaziantep. Merkel will einen Erfolg mit der Türkei. Doch die Visafreiheit ist in den eigenen Reihen umstritten. Die Erfahrung mit Serbien zeigte, dass die Zahl der Asylanträge steigt, sobald die Menschen einreisen können. Im Fall der Türkei kommt hinzu, dass in den kurdischen Gebieten bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Zu befürchten ist, dass vermehrt Kurden um Asyl bitten würden. Ihre Anerkennung als Asylbewerber könnte die Türkei als Affront verstehen.

Bundespräsident Gauck weiß um Balanceakt

Die Kanzlerin behandelt die Türkei betont rücksichtsvoll. Sie ging rasch zur Tagesordnung über, als türkische Sicherheitskräfte einen ARD-Korrespondenten auf dem Flughafen von Istanbul stoppten. Sie riskierte einen Krach mit ihrem Koalitionspartner SPD, um die Staatsanwaltschaft Mainz zu ermächtigen, gegen den Satiriker Jan Böhmermann vorzugehen, weil Erdogan sich von ihm beleidigt fühlte. Bis heute liegt der Justiz weder eine Anzeige Erdogans noch ein Strafverlangen seiner Regierung „in schriftlicher Form“ vor, wie die Behörde unserer Redaktion bestätigte. Merkel verteidigt die Ermächtigung, ärgert sich aber in einem Punkt über sich selbst. Sie hatte Böhmermanns Schmähgedicht als „bewusst verletzend“ für Erdogan bezeichnet. Dadurch sei der Eindruck entstanden sei, dass bei der rechtlichen Bewertung ihre persönliche Einschätzung „zu irgendetwas etwas zählt“, sagt sie. „Das war im Rückblick betrachtet ein Fehler“, sagt sie am Vorabend ihrer Reise.

Bundespräsident Joachim Gauck blickt lieber nach vorn. Es gelte, Lösungen in der Flüchtlingsfrage zu finden, ungeachtet der „Fehler der türkischen Politik und des türkischen Präsidenten“. Deutschland müsse „politikfähig“ bleiben, sagte er in einem Radiointerview, das morgen ausgestrahlt wird. Es könnte ein Leitfaden für Merkel sein – heute in Gaziantep.