Berlin. Die Verfassungsrichter erklären der Bundesregierung, was im Anti-Terror-Kampf erlaubt ist und was nicht: Abhören ja. Aber mit Grenzen.

100 Seiten ist das Urteil lang. Die Verfassungsrichter bewerteten in dem Prozess eine der Grundfragen dieser Zeit – die Balance zwischen Freiheitsrechten und Gefahrenabwehr. Der Mensch braucht Schutz durch den Staat gegen Terroristen. Der Mensch ist aber auch geschützt vor Überwachung des Staates. Nach den Anschlägen von New York, Paris oder Brüssel ist das eine permanente Gratwanderung. Das höchste deutsche Gericht entschied nun: Die Befugnisse der Behörden zur heimlichen Überwachung im Anti-Terror-Kampf gehen zu weit. Doch die Richter hoben auch hervor: Im Grundsatz hat der Staat das Recht, etwa Computerfestplatten mit Spionagesoftware zu durchsuchen oder eine Wohnung abzuhören, wenn Gefahr durch mögliche Attentäter droht. Es muss nur strenger geregelt werden, wann die Polizei wie weit gehen darf.


W as hat die Richter am Gesetzt gestört?

Heimlich in Wohnungen filmen, Gespräche beim Arzt oder Anwalt abhören, private Räume verwanzen: All das darf das Bundeskriminalamt (BKA) seit 2009. Es sind Maßnahmen, die bis dahin vor allem Geheimdienste hatten – und keine Polizeibehörde. Im Zuge der Gefahr vor allem durch Dschihadisten war Terrorabwehr nicht mehr Aufgabe der Länderpolizei – sondern des BKA. Doch die Richter sehen die Rechte der Bürger in dem Maßnahmenkatalog nicht ausreichend geschützt. Andersherum: Dem Eindringen des Staates in intime Gespräche werden zu wenig Grenzen gesetzt – und die Vergangenheit zeigt, dass Polizei und Geheimdienste ihre Mittel eher ausreizen als beschränken.

Seit Jahren ist das BKA-Gesetz daher umstritten. FDP-Politiker wie der Ex-Innenminister Gerhart Baum, Journalisten und Anwälte hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht. Nun muss das Gesetz bis Juli 2018 nachgebessert werden.

Wie schränkt das die Sicherheits­behörden ein?

Keine der Anti-Terror-Maßnahmen hat das Gericht vollständig verboten. Die Richter wollen nur engere Grenzen setzen. Das betrifft vor allem die Überwachung von Wohnungen und das Ausspähen von Computern. Diese Daten müssen künftig immer von einer unabhängigen Stelle vorgesichtet werden, bevor sie von der Polizei ausgewertet werden können. Mangelnde externe Überprüfung der Behörde etwa durch Datenschützer oder Parlamente ist häufig eine Kritik – etwa beim Thema Polizeigewalt. Wird künftig ein Computer eines mutmaßlichen Terroristen überwacht, müssen die Beamten dies zudem umfangreich protokollieren. Ein Verdächtiger darf nur im Park mit Peilsender belauscht werden, wenn ein Anschlag auch unmittelbar droht.

Das Gericht kippte die Vorschrift, dass auch Wohnungen von Kontaktpersonen Verdächtiger ausgespäht werden können. Unbescholtene Nachbarn oder Freunde im Sportverein sind besser geschützt. Auch Gespräche mit Rechtsanwälten sind künftig generell geschützt.

Die Richter schränken die Weitergabe von Daten durch die Polizei ein. Abhörprotokolle oder heimlichen Filmaufnahmen dürfen nicht ohne Anlass Verfassungsschützern oder dem Bundesnachrichtendienst ausgehändigt werden – es sei denn, es wird gegen die Person konkret ermittelt oder ein Anschlag erscheint plausibel. Erstmals regeln die Richter auch die Weitergabe von Daten an Polizeibehörden außerhalb der EU. Dabei muss die deutsche Behörde ein Auge darauf haben, dass Datenschutzrichtlinien auf deutschem Niveau angemessen eingehalten werden. Auf keinen Fall dürfe Deutschland Menschenrechtsverletzungen befördern – also etwa Diktaturen mit Daten aus Deutschland den Machterhalt sichern.

Behindert Karlsruhe den Kampf gegen den Terror?

Das Urteil schwäche die deutschen Sicherheitsbehörden nicht im Anti-Terror-Einsatz, sagt der Innenexperte der CDU im Bundestag, Ansgar Heveling, dieser Redaktion. Denn die Überwachung bleibe ebenso möglich wie der Zugriff auf IT-Systeme und verschlüsselte Kommunikation. „Das ist wichtig, damit das BKA weiter effektiv gegen Terrorverdächtige vorgehen kann.“ Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter sieht keine Sicherheitsrisiken, da „sich für die Praktiker wenig ändert“, sagt BDK-Vorsitzender André Schulz dieser Zeitung. Die wesentlichen Bestandteile des Gesetzes würden nicht bemängelt.

Innenminister Thomas de Maizière sprach dagegen von „Bedenken, die ich nicht teile und die den Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht erleichtern.“ Der CDU-Politiker forderte: „Insbesondere der Informationsaustausch zwischen den Behörden in Deutschland und mit unseren internationalen Partnern muss erhalten – ja ausgebaut werden.“ Eine Einschätzung, die viele Beamte in Sicherheitskreisen teilen: Das Ermittlungsdesaster gegen die NSU-Rechtsterroristen habe gezeigt, dass Datenaustausch unverzichtbar sei.

Wie brisant das Urteil ist, zeigt sich darin, dass gleich zwei der acht Richter im Senat ihren Kollegen widersprachen. In einer Erklärung halten sie etwa das „Sonderopfer“, das einzelne unbescholtene Bürger im Gegenzug zur Gewährung öffentlicher Sicherheit bringen müssten, für vertretbar – etwa die eingeschränkte Privatsphäre in konkreten Fällen von Gefahr.

Ist das Urteil des Gerichts eine Blamage für die Regierung?

Vor allem die Opposition von Linkspartei, FDP und Grünen, aber auch Menschenrechtler und Anwälte feiern das Urteil als Erfolg – und üben Kritik an der Bundesregierung. „Es kann nicht sein, dass fast jedes Sicherheitsgesetz der GroKo vom Bundesverfassungsgericht einkassiert wird“, sagt Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt dieser Redaktion. Solides vertrauenswürdiges Regieren sehe anders aus. „Verfassungsrechtliche Mindeststandards sind gleich im Gesetzgebungsverfahren zu berücksichtigen.“ Schon bei den Gesetzen zum Großen Lauschangriff und zur Vorratsdatenspeicherung hatten die Richter den Gesetzgebern klare Mängel beim Datenschutz ausgestellt. Das 2005 durch die rot-grüne Regierung erlassene Luftsicherheitsgesetz im Kampf etwa gegen Flugzeugentführungen hatte in Karlsruhe ebenfalls keinen Bestand.

Werden Gesetze nicht vorher verfassungsrechtlich geprüft?

Doch. Wird ein Gesetz in einem Ministerium ausgearbeitet, prüfen Rechtsexperten der Regierung die Entwürfe: In diesem Fall Fachleute des federführenden Innenministeriums, das den Entwurf vorgelegt hat, in jedem Fall aber auch Beamte des Justizministeriums. Auch im Verlauf parlamentarischer Debatten diskutieren Politiker über die Grundgesetz-Kompatibilität eines Gesetzes. Nur lässt ein Gesetz immer einen rechtlichen Korridor zu, der von linken Politikern oder unabhängigen Verbänden anders bewertet wird als von rechten Abgeordneten oder Mitarbeitern der Geheimdienste. Was Recht ist, bleibt oft Verhandlungssache. Jeder Bürger – sei er Anwalt, Angestellter oder Politiker – hat daher das Recht, gegen ein Gesetz vor Gericht zu klagen, wenn sie oder er der Meinung ist, das es gegen die Verfassung verstößt.