Berlin. Die Justiz darf nun gegen Jan Böhmermann ermitteln. Kanzlerin Angela Merkel machte den Weg dafür frei. Die Koalition ist gespalten.

Am Vormittag hat die Kanzlerin noch einmal auf Sigmar Gabriel eingeredet. Letzter Versuch. Angela Merkel (CDU) hätte den SPD-Chef und Vizekanzler nur allzu gern an ihrer Seite gehabt. Nun wird es doch ein einsamer Gang, den sie am Freitag um 13 Uhr antritt. Sie steht in der ersten Etage der Regierungszentrale, Südseite, das Foyer grell erleuchtet von den Scheinwerfern, alle Kameras auf sie gerichtet. Die Szenerie ist an sich schon hochpolitisch: Die Sozialdemokraten bleiben auf Distanz, Merkel muss es allein auf ihre Kappe nehmen, dass ihre Regierung die Mainzer Staatsanwaltschaft dazu ermächtigt, ein Verfahren gegen den Satiriker Jan Böhmermann einzuleiten. Der Mann hatte im ZDF ein Schmähgedicht gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vorgetragen. Erdogan hatte daraufhin ein Verfahren beantragt und sich auf eine alte Strafnorm berufen. Laut Paragraf 103 und folgenden kann die Regierung bei einer Beleidigung eines Staatsoberhauptes darüber entscheiden, ob die Justiz ermitteln soll. Oder auch nicht.

Die SPD ist verärgert

Wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) erzählte, war das Kabinett gespalten. Hier die SPD-Minister, dort ihre CDU-Kollegen. Eine Pattsituation. Merkels Stimme gab den Ausschlag. Wenn man so will, hat die Kanzlerin von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und die SPD ihrerseits davon abgesehen, es darob auf einen Koalitionsbruch ankommen zu lassen. Das ganz große Drama wollten die Sozialdemokraten vermeiden.

Es war eine Ermessensentscheidung. Für beide Alternativen habe es gute Gründe gegeben, räumte Steinmeier immerhin ein. Einig sind sich sogar alle Parteien im Bundestag darin, dass der Paragraf 103 „aus der Zeit gefallen“ (Justizminister Heiko Maas), die Strafnorm „entbehrlich“ (Merkel) sei und folglich abgeschafft gehöre. Spätestens 2018 soll sie der Vergangenheit angehören, ein Relikt war sie schon bisher.

„Diese antiquierte Vorschrift bringt unseren Staat in die völlig unmögliche Lage“, schimpfte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann im Gespräch mit unserer Zeitung. Er halte Merkels Entscheidung für falsch. „Meinungs- und Kunstfreiheit sind höchste Schutzgüter der Verfassung“, betonte Oppermann.

Satire oder strafbare Beleidigung?

Vor einer Woche hatte die türkische Regierung ein Strafverfahren verlangt. Weil Erdogan zugleich persönlich Anzeige erstattete, hätte die Justiz so oder so darüber entscheiden müssen, ob Böhmermanns Gedicht als Satire „oder schon als strafbare Beleidigung“ zu gelten habe, so Maas. Die Kanzlerin habe sich „ohne Not in eine schwierige Situation gebracht“, folgerte Oppermann.

Merkel hatte gezögert. Eine Woche lange hatte die Regierung das Begehren der Türken geprüft. Innen- und Justizministerium waren beteiligt, das Auswärtige Amt hatte die Federführung. Merkel räumte ein, dass es „unterschiedliche Auffassungen zwischen den Koalitionspartnern“ gab. Aber: „Im Ergebnis wird die Bundesregierung im vorliegenden Fall die Ermächtigung erteilen.“ Chefsache. Und damit basta.

Spätestens am Mittwoch hatte sie sich dazu durchgerungen. In der Nacht zum Donnerstag – am Rande des Koalitionsausschusses – hat die Kanzlerin versucht, Sigmar Gabriel für sich zu gewinnen. Er respektierte ihre Entscheidung. Mithaften wollte der SPD-Chef aber nicht.

Merkel formuliert etwas ungelenk

Merkel musste die Sache allein erklären. Am Freitag verwies sie in ihrer fast fünfminütigen Erklärung zunächst darauf, dass die Türkei und Deutschland „eng und freundschaftlich verbunden“ seien. Sie hob die Gemeinsamkeiten und Interessen hervor: die türkischen Mitbürger, die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Partnerschaft in der Nato, den Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Seltsam nur, das Naheliegende erwähnte sie nicht: die Flüchtlingskrise und die Abhängigkeit von der Türkei bei ihrer Lösung.

In der engen Partnerschaft seien die gegenseitige – auch völkerrechtlich geschuldete Achtung – ebenso wie der offene Austausch zu der Unabhängigkeit der Gerichte und des Meinungspluralismus von „besonderer Bedeutung“, formulierte Merkel etwas ungelenk. Nach einem Plädoyer, Grundrechte wie die Meinungs-, die Kunst- und Pressefreiheit zu achten, kam sie zum Kern ihrer Argumentation: zum Rechtsstaat.

Merkel ließ keine Fragen zu

Die Justiz sei unabhängig. Im Rechtsstaat sei garantiert, dass die Verfahrensrechte des Betroffenen gewahrt würden. Auch gelte die Unschuldsvermutung. Es sei Sache von Staatsanwaltschaften und Gerichten, das Persönlichkeitsrecht und andere Belange gegen die Presse- und Kunstfreiheit abzuwägen. Die Erteilung einer Ermächtigung zur Strafverfolgung sei weder eine Vorverurteilung noch eine vorgreifende Entscheidung über Grenzen der Kunst-und Meinungsfreiheit. Sie bedeute nur, dass die Justiz das letzte Wort habe. „Genau in diesem und in keinem anderen Verständnis, genau in diesem und in keinem anderen Gesamtrahmen“ habe man die Ermächtigung erteilt.

Versuchte die Kanzlerin damit, ihre Hände in Unschuld zu waschen? Man hätte sie das gern gefragt. Aber Merkel ließ keine Fragen zu. Sie ahnte da wohl schon, wie verheerend das Echo auf ihre Entscheidung ausfallen würde. Es wäre nicht besser geworden, wenn Merkel noch mehr Worte verloren hätte.

Kanzlerin versuchte, Erdogan zu besänftigen

„Es fühlt sich falsch an, dass es hier eine Sonderbehandlung gibt“, sagte Grünen-Chef Cem Özdemir unserer Zeitung. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner beklagte, „die Symbolwirkung der jetzt erteilten Ermächtigung ist sehr groß“. Er sei sich sicher, Merkel hätte anders entscheiden müssen, „um gegenüber der Türkei unser Verständnis von Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu vertreten“. Erdogan habe Merkel durch veraltetes deutsches Recht unter Druck setzen können: „Er hat die Möglichkeit genutzt, um Frau Merkel in die Defensive zu bringen.“

Dabei hatte die Kanzlerin erst einmal versucht, den Türken zu besänftigen. In einem Telefonat mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hatte sie erklärt, Böhmermanns Kritik sei „bewusst verletzend“ gewesen. Es klang wie eine Solidaritätserklärung. Doch die Besänftigungsstrategie schlug fehl. Erdogan beharrte unverdrossen auf Satisfaktion: Ein Verfahren, am Ende womöglich eine Strafe für den Satiriker. Am Freitag ist Erdogan seinem Ziel einen Schritt näher gekommen.

Merkel war so hilfreich.