Berlin. Manche Flüchtlingskinder reisen unerkannt weiter und werden doppelt registriert. Das Rote Kreuz geht schon 1904 Suchanfragen nach.

Eigentlich hatte Schockria Rabani jede Hoffnung verloren. Als die Afghanin vor gut einem Jahr mit ihrem Mann und fünf Kindern Richtung Europa flüchtete, verlor sie an der Küste der Türkei beim Warten auf ein Flüchtlingsboot nach Lesbos im Getümmel ihren zehnjährigen Sohn Mahdi aus den Augen. Mehr als sieben Monate suchte sie nach dem Kind. Im niedersächsischen Uelzen erlebten sie schließlich ein Wunder: Ein Flüchtlingsbetreuer des Deutschen Roten Kreuzes fahndete europaweit nach dem Kind und fand es in der Schweiz. Der Junge hatte sich nach dem Verlust der Eltern auf dem Flüchtlingsboot einer anderen Familie angeschlossen. Die Familie ist wieder vereint.

Nicht alle diese Geschichten enden so glücklich. Tatsächlich sind derzeit Tausende Kinder und Jugendliche auf der Flucht nach Europa, einige auch allein. Und manche, wie Mahdi, werden unfreiwillig zu unbegleitet reisenden minderjährigen Flüchtlingen. „Die Zahl der Suchanfragen hat sich bei uns im vergangenen Jahr auf 1904 Menschen fast verdoppelt“, berichtet der Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes, Dieter Schütz. Im Jahr 2015 gab es 345 Anfragen von Kindern, die über den DRK-Suchdienst nach ihren Verwandten gesucht haben und Familien, die nach ihren Nachwuchs gefahndet haben. „Dies waren 60 Prozent mehr als noch im Jahr zuvor“, so Schütz.

Flüchtlinge können online nach ihren Kinder suchen

Das Internationale Rote Kreuz hat in alter Tradition ein Suchportal für Flüchtlinge eingerichtet. Unter „Trace the Face“ können Personen ab 15 Jahren ein Foto von sich auf die Webseite stellen. Ein ähnliches Angebot für Kinder gibt es auch: „Trace the Face for Kids.“ Allerdings ist diese Suche besonders geschützt. Fotos werden ausschließlich von den Rotkreuz-Suchdiensten eingestellt und können auch nur dort eingesehen werden. Dies dient dem Schutz der Kinder – damit sie auch tatsächlich bei ihren Verwandten landen.

Aber nicht nur auf den internationalen Fluchtrouten gehen Kinder verloren. Auch innerhalb Deutschlands „verschwinden“ Kinder aus Flüchtlingsunterkünften. Laut Bundeskriminalamt sind im vergangenen Jahr 5835 minderjährige Flüchtlinge verschwunden – von den 8006 als vermisst gemeldeten tauchten nur 2171 wieder auf. Die hohe Zahl muss jedoch mit Vorsicht behandelt werden. Sie bedeutet nicht, dass die Kinder deshalb in Händen von Kriminellen gelandet sind oder ihnen etwas zugestoßen ist.

Viele Kinder befinden sich schlichtweg auf der „Weiterreise“, berichtet der Vorstand des Bundesfachverbands für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), Henning Wienefeld. Auf ihrer Flucht landen sie beispielsweise in Bayern, wollen dort aber nicht bleiben, sondern zum Beispiel nach Schweden, weil dort bereits ein Teil ihrer Familie lebt. Also ziehen sie weiter, ohne sich abzumelden.

Buchstabendreher erschweren die Suche

Grundsätzlich werden unbegleitet minderjährige Flüchtlinge – oft Jungen zwischen 14 und 17 Jahren – von den Jugendämtern registriert, aufgenommen und betreut. Kehren sie nicht in die Unterkünfte zurück, müssen sie spätestens nach 48 Stunden von den Betreuern als vermisst gemeldet werden. Reisen die Flüchtlinge dann über Kassel, Hannover und Hamburg weiter, werden sie dort erneut registriert und als vermisst gemeldet, sollten sie ihre Reise wieder unabgemeldet fortsetzen. So kommt es zu Mehrfachregistrierungen und Vielfachzählungen. „Dieses Phänomen von abgetauchten Kindern und Jugendlichen gibt es seit Jahrzehnten“, berichtet auch der Vize-Chef von Pro Asyl, Bernd Mesowic. Ein anderes Problem ist die Sprache: Allein ein Buchstabendreher bei der Erfassung genügt und die Jugendlichen sind nicht mehr unter ihrem Namen zu finden.

Selbst wenn viele nur in der Statistik als Verschwundene auftauchen, zeigt sich das Bundesfamilienministerium besorgt, so eine Sprecherin: „Leider können wir nicht ausschließen, dass Kinder und Jugendliche in die Hände von Kriminellen gelangen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind die schutzbedürftigste Personengruppe überhaupt. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, bestmöglich zu schützen.“

Monatelange Suche nach jugendlichem Somalier

Zum Beispiel der Kreis Siegen-Wittgenstein. Dort sind bislang 500 Minderjährige in Obhut genommen worden. Bei acht Jugendlichen wissen die Behörden bis heute nicht, wo sie geblieben sind. Besonders betroffen ist davon oft auch der Vormund. „Mir bereitet es schlaflose Nächte, wenn ein Jugendlicher verschwunden ist“, sagt Stefan Born. Der Erzieher vom Fachbereich Jugend und Soziales der Stadt Hagen ist ein vom Familiengericht eingesetzter Vormund. Der 36-Jährige ist für 30 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zuständig. Er weiß von drei Kindern, die nicht wieder auftauchten.

Till Schmid von der AWO Jugendhilfe im hessischen Dreieich hat das nur ein Mal erlebt – in zehn Jahren. „Der 17 Jahre alte Somali Abdirahman kam im Juli 2013 einfach nicht zurück in sein Zimmer.“ Abdirahman sei unglücklich gewesen. „Wenn sich so etwas andeutet, besprechen wir das mit den Jugendlichen und versuchen, einen Weg zu finden, dass sie umziehen können“, sagt Schmid. Sie gaben eine Vermisstenanzeige auf, doch es gab über Monate keine Spur zu dem Jugendlichen. Erst im Frühjahr 2014 meldete er sich – über Facebook. Abdirahman war in Boston angekommen, es ging im gut. Wirklich verhindern könne man diese Fälle aber nicht. „Wir schließen die Türen nicht ab“, sagt Till Schmid.