Hamburg. Terroranschläge, aber auch die Übergriffe in Köln haben dafür gesorgt, dass die Deutschen nicht mehr so zuversichtlich sind.

Diesen Kinoabend in einem niedersächsischen Städtchen werden einige Besucher vermutlich nicht so schnell vergessen: Dort stand nämlich am Ostersonnabend der Actionfilm „London Has Fallen“ von Babak Najafi auf dem Programm, der von einem exakt geplanten Anschlagsszenario islamistischer Terroristen erzählt, das binnen weniger Filmminuten aus dem Nichts ein paar Sehenswürdigkeiten der britischen Hauptstadt pulverisiert, wobei zahllose Menschen getötet werden – darunter auch fünf Staatsoberhäupter, die sich anlässlich der Trauerfeier für den britischen Premierminister in London eingefunden haben, der „unter mysteriösen Umständen“ verstorben war.

Doch im Saal, so erzählt wiederum ein Kinogänger, der anonym bleiben möchte (Name ist der Redaktion bekannt), auf Facebook, „sitzt an diesem Abend auch ein gutes Dutzend muskelbepackter junger Männer mit Mi­grationshintergrund, die sich gegenseitig mit ‚Akhi‘ (,Bruder‘) ansprechen, vor dem Film gemeinsam unter der Treppe ihre Jacken als Gebetsteppich ausrollen, ‚bismillah al-rahman al-rahim‘ (,Im Namen des Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen‘, die Gebetsformel, mit der jede Sure im Koran beginnt) beten, um dann lautstark in der letzten Reihe zu randalieren, verbal jedenfalls, offensichtlich auf Krawall gebürstet. Eine Reihe tiefer drei Frauen im Niqab (Gesichtsschleier), allerdings farbig, na immerhin, aber zur Unkenntlichkeit verschleiert; dass sie dazugehören, ist anzunehmen.“ Und der Beobachter stellt die Frage: „Wie werden sie auf die Szenen der terroristischen Angriffe reagieren? Wir beschließen, es nicht herauszufinden. ‚Ey, wollt ihr schon gehen? Wir sind jetzt still, versprochen.‘ – ‚Glauben wir nicht.‘ - Grölendes Gelächter. Lieber lassen wir unsere Karten verfallen.“

Über die Hälfte hat inzwischen Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden

„London Has Fallen“, im Sommer 2015 abgedreht, vereinige vor dem Hintergrund der Terroranschläge von Paris am 13. November des vergangenen Jahres und von Brüssel am 22. März dieses Jahres das Fiktive mit dem Realen, schreibt der Filmkritiker Pascal Reis für den Filmblog „Cinema Forever“. Allerdings scheitere der Film inhaltlich vor allem an seiner Doppelmoral, denn „es gibt gute Gewalt, die es frenetisch zu bejubeln gilt, und es gibt schlechte Gewalt, die nur von grausamen Dämonen aus einer anderen Welt ausgeführt wird“.

Und nun feixte ein Dutzend selbst ernannter Söhne dieser Dämonen in einem Kinosaal und vertrieb so einige deutsche Besucher. Dass die Geschichte nicht erfunden ist, bestätigt Jörg Schröder, einer der Sprecher der Hamburger Polizei, auf Nachfrage des Abendblatts, denn der Streifen wird ja auch in der Hansestadt gezeigt. „Der Staatsschutz ist in Kenntnis“, sagt Schröder, „in Hamburg wurde jedoch bisher kein solcher Vorfall bekannt.“

Deutschland im Frühling 2016: Passanten senken die Köpfe, wenn sie an einem Infostand einer Salafisten­gruppe vorbeimüssen. Sie wechseln die Straßenseite, wenn ihnen eine Gruppe junger Männer mit erkennbarem Mi­gra­tionshintergrund entgegenkommt, sie lassen ihre Kinokarten verfallen, wenn sie im Saal von Muslimen provoziert werden. Durchs Internet wabern zahlreiche bestätigte, aber auch unbestätigte Nachrichten, zum Beispiel: „Mein Kollege wurde von einem Ausländermob in der Falkenhagener Straße in Berlin grundlos zusammengeschlagen!“ (stimmt); aus Fulda wiederum wurde bekannt, „dass es, seitdem die Flüchtlinge da sind, 30 Vergewaltigungen gegeben hat“ (stimmt nicht). Zunehmend wird Unverständnis darüber geäußert, „dass niemand was dagegen tut“ – nur wogegen? Nicht wenige Ur-Pazifisten, die früher gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße gingen, sind heute zu brettharten Befürwortern des Auge-um-Auge-Prinzips mutiert: „Schmeißt einfach eine Bombe auf das fisselbärtige Pack!“, heißt es oder, um nur zwei Reaktionen auf diesen besonderen Kinoabend zu zitieren: „Wo ist das Problem? Ein paarmal das Vaterunser, immer wenn Terroristen abgeballert werden, jubeln, und wenn Terroristen zuschlagen, ‚Islam ist Frieden‘ brüllen!“; der gemäßigte Facebook-Eintrag liest sich so: „Natürlich kann man auch das Beten als Provokation empfinden. Auch so etwas, das Halbstarke schon immer taten: Provozieren. Es hat viel mit Projektion unsererseits zu tun.“

Zwischen dem Islam, dem verfassungsfeindlichen, extremistischen Islamismus und dem Flüchtlingsproblem sind die Übergänge darüber hinaus fließend geworden. Eine Kostprobe Angst: „Bei uns laufen gefühlt 99 % männliche Flüchtlinge herum, ab und zu mal ein Pärchen, mal mit, mal ohne Kind. Wir sind weggezogen, weil sofort der Spruch bei leisester Kritik kam, man würde das ja jetzt nur sagen, weil der andere Ausländer sei. Dieser unerträgliche Deutschenhass hat mich so wütend gemacht“, postet eine Frau aus Hamburg. Experten warnen vor solch bewusster Gleichmacherei. Die Diskussionsbeiträge reichen dabei von radikal-rassistisch über gewaltbereit-rachsüchtig bis hin zu besonnen-mahnend und total verängstigt. Sie spiegeln ziemlich genau die Ergebnisse zahlreicher repräsentativer Umfragen und Untersuchungen unter den Deutschen wider, die in den vergangenen Wochen und Monaten veröffentlicht wurden: Danach habe zum Beispiel die große Zuversicht, die 2014 noch vorhanden gewesen sei, extrem abgenommen. Etwa jeder sechste Bürger habe mittlerweile sein Verhalten im Alltag geändert, denn landauf, landab registrierten die Ordnungsbehörden eine sprunghaft ansteigende Zahl von Anträgen auf den „Kleinen Waffenschein“.

Fast zwei Drittel meinen, in unsicheren Zeiten zu leben, 82 Prozent der Deutschen fürchten eine Zunahme der Kriminalität, und immerhin über die Hälfte hat inzwischen Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden – was jedoch den statistischen Daten der Vergangenheit klar widerspricht: Der Arzt und Risikoforscher Klaus Heilmann fand bereits 2010 in seinem Bestseller „Das Risikobarometer. Wie gefährlich ist unser Leben wirklich?“ heraus, dass es vor allem die Fülle und Geschwindigkeit, mit der uns Informationen über Risiken jederzeit und überall erreichen, dem Einzelnen praktisch unmöglich machen, eine rational begründete Risikoeinschätzung vorzunehmen – heute mehr denn je. Dabei müsse aber die „Angst, die für den Menschen das wichtigste Schutzinstrument ist, immer auch individuell betrachtet werden. Wer ohnehin beunruhigt ist, sucht nach Nachrichten, die seine Ängste rechtfertigen. So entstehen Wellen der Aufmerksamkeit für wechselnde Themen wie Terroranschläge, Schweinegrippe, Klimawandel, Meteoriteneinschläge, Vulkanausbrüche, Atommüll“, sagt Heilmann.

Über das Furchtempfinden entscheide auch, ob wir mit den Risiken selten oder alltäglich konfrontiert seien. „Kaum ein Autofahrer vergegenwärtigt sich die elf Menschen, die im Schnitt täglich in Deutschland im Straßenverkehr umkommen. Das Automobilrisiko ist ein verdrängtes Risiko“, so Heilmann, „das ebenso wie andere freiwillig in Kauf genommene Risiken heruntergespielt wird.“ So sei das Rauchen mit 1 zu 180 das größte Risiko im Leben überhaupt. Die Chance, bei einem Flugzeugunglück ums Leben zu kommen, liege nach einer Studie, die er im Zusammenhang mit einer Bevölkerungsbefragung des Meinungsforschungsinstituts Emnid 2015 vorgestellt habe, bei etwa 1 zu 5.600.000, im Straßenverkehr bei 1 zu 24.200, und das des Trinkens liege bei 1 zu 650.“

Offenbar fürchten sich die Deutschen also vor dem Falschen, aber sie fürchten sich unüberfühlbar. „Von einer Paranoia zu sprechen, halte ich dennoch für problematisch“, sagt der Soziologe Prof. Wolfgang Bonß, der an der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München über öffentliche Sicherheit und Risiko forscht. Wer massive Angststörungen habe oder pathologisch reagiere, sei eher ein Fall für die Therapie. „Wenn ich allerdings keine Pathologien unterstelle, dann ist aktuell über tatsächliche Gefährdungslagen zu diskutieren. In Deutschland hatten wir in den letzten zehn Jahren zwar zehn NSU-Morde, die offensichtlich kaum Ängste auslösten, aber ‚nur‘ einen islamistischen Anschlag mit zwei Toten, der auch nicht viele Ängste freisetzte, weil da zwei amerikanische Soldaten in einem nur begrenzt öffentlichen Bereich am Frankfurter Flughafen ermordet wurden. Wir reden daher über mögliche Bedrohungen, die ohne Frage globalisierungsbedingt gestiegen sind, aber nicht unbedingt über tatsächliche Bedrohungen.“ In der Sprache der Sicherheitsbehörden hieße das: über eine ‚abstrakte‘, aber nicht unbedingt über eine ‚konkrete Sicherheitslage‘.“

Die Zahl der Infostände, an denen der Koran verteilt wird, ist stetig gestiegen

Moment, halt: Ist der Salafismus in Deutschland und Europa nicht schon seit Jahren die dynamischste islamistische Bewegung? Nach Erkenntnissen des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz wurden 2011 in ganz Deutschland rund 3800 Personen dieser Szene zugerechnet, mittlerweile sind es deutlich mehr als 8000 Personen. Allein in Hamburg hat sich die Zahl im selben Zeitraum von rund 200 auf 460 mehr als verdoppelt, davon gelten 270 als Dschihadisten, die den bewaffneten Dschihad im Sinne der Ideologie des IS oder von al-Qaida befürworten. Auch die Zahl der Infostände, an denen der Koran kostenlos verteilt wird, ist stetig gestiegen. „Dabei interessiert es den Verfassungsschutz nicht, ob jemand auf der Spitalerstraße einen Infostand anmeldet und Bibeln, Korane, Grundgesetze oder Kochbücher verschenkt. Uns interessiert, ob verfassungsfeindliche Bestrebungen, extremistische Salafisten, dahinterstecken – und das ist bei Gruppierungen ,Lies!‘ sowie ,Siegel der Propheten‘ der Fall“, sagt Marco Haase, Sprecher des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz. Der extremistische Islamismus kann nicht zuletzt öffentlich in Erscheinung treten, weil das Bundesverfassungsgericht das Recht zur Versammlungsfreiheit in mehreren Verfahren bisher extrem hoch bewertet hat. „Diese Koranverteilungsaktionen besitzen eine gruppendynamische Funktion. Sie schweißen die Gruppe zusammen, sorgen für Zusammenhalt und wachsendes Selbstbewusstsein“, sagt Marco Haase. „Es ist dem Verfassungsschutz daher sehr daran gelegen, dass die Öffentlichkeit weiß, dass diese Infostände keine harmlosen 08/15-Stände sind, sondern dass Extremisten dahinterstecken. Diese Aufklärung gehört zu den ureigensten und gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben des Nachrichtendienstes. Der Sinn dahinter: Gut informierte Bürgerinnen und Bürger sind gute Fundamente für eine Demokratie.“

Darf man von den Bürgern eines latent gefährdeten Staates verlangen, dass sie ebenso subtil wie politisch korrekt zwischen denjenigen Salafisten unterscheiden sollen, die Passanten mit kostenlosen Koranausgaben missionieren, und denjenigen feigen Massenmördern, die sich nur ein paar Hundert Kilometer entfernt in einer Menschenmenge in die Luft sprengen, um mit ihrem vermeintlichen Märtyrertod ihren Traum eines europäischen Kalifats, Scharia inklusive, voranzutreiben? „Das Tempo in der gegenwärtigen Lage erlaubt praktisch keine rationale Abwägung der aktuellen Risikosituation, sagt Klaus Heilmann, „der Mensch hört jetzt vor allem auf seinen Bauch.“

Wolfgang Bonß plädiert schon seit ­Längerem für eine „Entdramatisierung“

Kein Wunder, dass in den Medien und in den sozialen Netzwerken Ängste eher geschürt als beruhigt werden. Wolfgang Bonß plädiert schon seit Längerem für eine „Entdramatisierung“, was „eine Relationierung der terroristischen Bedrohung und ihre Einbettung in die alltägliche Lebenswelt“ bedeutet. „Allerdings kann dies nur ein Aspekt sein, denn die Rückgewinnung einer rationalen Diskurskultur – und damit auch eine Stärkung der politischen Kultur – ist kein Tagesprojekt, sondern erfordert eine möglichst frühe gesellschaftliche Einübung. Hier sind Sozialisationsinstanzen, aber auch Medien gefordert, die Hilfestellung bei der Einübung von Toleranz und Respekt geben müssen.“

Dann sei da auch die „realpolitische“ Seite: „Es müssen politische Strategien zur Austrocknung des Terrors entwickelt werden, und zwar im Binnenraum ebenso wie im internationalen Gefüge. Hier bestehen ohne Frage erhebliche Defizite, die von einer halbherzigen und unterfinanzierten Inte­grationspolitik bis hin zu einem weitgehenden Versagen auf internationaler Ebene reichen.“ Trotzdem schreibt Bonß der Bundesregierung ein relativ gutes Rollenverhalten ins Klassenbuch. „Sie dramatisiert eigentlich erstaunlich wenig. Sie agiert eher vorsichtig und bemüht sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit wenigen Ausnahmen um eine Entdramatisierung; wohl, weil sie weiß, dass Dramatisierungen nur zu einer weiteren Verschlechterung von Klima und Stimmung führen würden“, sagt der Soziologe.

Den Medien dagegen stellt Bonß kein so gutes Zeugnis aus, was auf das strukturelle Problem zurückzuführen sei, die gebotene – und durchaus auch wahrgenommene – Aufklärungsfunktion mit Schlagzeilen und Dramatisierungen in Einklang zu bringen, die sowohl für Werbung als auch für Umsatz sorgten. „Allerdings muss auch über den Funktionswandel der Medien in einer digitalisierten Gesellschaft geredet werden“, sagt Bonß, „denn die digitalisierte Öffentlichkeit ist eine individualisierte und zersplitterte, in der Aufklärung schwieriger wird: weil es die Individuen viel leichter haben, argumentativen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen und ihr Weltbild einschließlich der dazugehörigen Vorurteile zu immunisieren.“