Brüssel. Sicherheitspannen im Vorfeld des Doppelanschlags stürzen die belgische Regierung in die Krise. Zwei Minister boten ihren Rücktritt an.
Während die Fahndung nach den Urhebern des Blutbads vom Dienstag Schritt für Schritt voran kommt, fördert die Aufklärung der Vorgeschichte immer neue Pannen und Versäumnisse zutage. Wie schon nach den November-Anschlägen von Paris haben die belgischen Sicherheitsverantwortlichen offenbar die Chance verpasst, einen Beteiligten zu ergreifen, diesmal vor der Tat. Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens boten ihren Rücktritt an. Premier Charles Michel lehnte ab. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss soll nun klären, wie es zu den Fehlleistungen kommen konnte.
Der türkische Präsident Erdogan persönlich hatte den Belgiern Versagen vorgeworfen: Die Türkei habe einen der Täter von Brüssel im Juni an der Grenze zu Syrien festgenommen und anschließend ausgeliefert. Doch Belgien habe die Warnungen ignoriert, „dass er ein ausländischer Terror-Kämpfer ist“, sagte Erdogan. Geens, im Fernsehen zu Erdogans Behauptung befragt, hatte nur eine dürftige Verteidigung zu bieten: „Seines Wissens“ habe gegen den Mann nichts vorgelegen. Später räumten beide Minister „Fehler“ ein. Mittlerweile sagte der Justizminister, die Türkei habe Belgien zu spät über die Ausweisung des Terrorverdächtigen informiert. „Wir wurden erst gewarnt, nachdem das Flugzeug (mit El Bakraoui) in Schiphol gelandet war“, sagte Geens am Donnerstagabend.
Bakraoui war Behörden nicht als Islamist bekannt
Es geht um Ibrahim Bakraoui, der sich zusammen mit einem Komplizen am Dienstag im Flughafen Zaventem in die Luft sprengte. Die belgische Justiz kannte ihn als gewalttätigen Kriminellen, aber offenbar nicht als islamistischen Extremisten. Aus einer zehnjährigen Haft wegen bewaffneten Überfalls war er 2014 vorzeitig entlassen worden und anschließend untergetaucht. Aus der Türkei war er schließlich nicht nach Belgien, sondern in die Niederlande gekommen.
Bakraouis jüngerer Bruder Khalid, der den Anschlag in der U-Bahnstation Maelbeek verübte, war in der Vergangenheit ebenfalls als Krimineller – vor allem als Autodieb – aufgefallen und verurteilt worden. Aber auch er war bereits vor dem Doppel-Attentat in Brüssel ins Fadenkreuz ausländischer Terror-Fahnder geraten: Auf Veranlassung der französischen Strafverfolger wurde er seit dem 11. Dezember per internationalem Haftbefehl als Helfershelfer der Pariser Attentäter gesucht. Die belgische Generalstaatsanwaltschaft hatte noch am Mittwoch erklärt, die Bakraouis hätten bislang „keine Verbindungen zum Terrorismus“ gehabt.
Aufnahmen zeigen einen der Täter im Gespräch mit Komplizen
Die Ermittler vermuten mittlerweile, dass Khalid am Dienstag doch nicht allein handelte. Bilder einer Überwachungskamera zeigen ihn kurz vor dem Anschlag im Gespräch mit einem zweiten Mann, beide ausgerüstet mit einer großen, anscheinend gut gefüllten Tasche. In belgischen Medien kursierte eine Zeichnung eines möglichen Komplizen. Ob er entkommen ist oder unter den Toten, war zunächst unklar.
Einer der drei Attentäter vom Flughafen ist ebenfalls weiterhin namentlich nicht bekannt und flüchtig. Sein Sprengsatz war erst verspätet hochgegangen und hatte keinen zusätzlichen Personen-Schaden angerichtet. Neben Ibrahim Bakraoui soll in Zaventem ein weiterer Hintermann der Pariser Anschläge namens Najim Laachraoui eine Bombe gezündet haben und dabei umgekommen sein. Die Staatsanwaltschaft hat das aber bislang nicht bestätigt.
Salah Abdeslam will der französischen Justiz überstellt werden
Rätselhaft ist vorerst auch die Rolle von Salah Abdeslam, vor einer Woche nach langer Fahndung ergriffen und gleichfalls verdächtig als Drahtzieher der Pariser Mord-Kommandos. Er teilte am Donnerstag über seinen Anwalt mit, er wolle jetzt möglichst schnell an die französische Justiz überstellt werden. Ein bemerkenswerter Sinneswandel – nach seiner Festnahme hatte er Widerstand gegen die Auslieferung nach Frankreich angekündigt.
EU-Kommissar Günther Oettinger warf den belgischen Behörden in der Bild-Zeitung „klare Mängel“ vor. Sein Chef, EU-Kommissionspräsident Juncker, nahm das Land hingegen in Schutz. Das Gerede vom versagenden Staat Belgien sei „unangemessen“. Auch in anderen EU-Staaten wie Großbritannien, Italien, Frankreich oder Deutschland habe Terrorismus-Abwehr nicht immer funktioniert. Erneut beklagte Juncker, wie schleppend in der EU die Umsetzung beschlossener oder vorgeschlagener Maßnahmen vorankomme.
Die Welt zeigt Solidarität mit Belgien
Dringlichstes Erfordernis sei ein besserer Informationsaustausch, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der am Nachmittag mit seinen EU-Kollegen auf einer Sondersitzung über Konsequenzen aus der Entwicklung in Belgien beriet. „Unser Problem ist, dass wir so viel getrennte Daten haben, die zu wenig miteinander verknüpft werden.“ So müsse man „die getrennten Töpfe“ für Daten, die beim Reiseverkehr, bei der Migration und bei den Sicherheitsbehörden anfallen, miteinander verbinden. Es gebe allerdings ein Mentalitätsproblem. „Viele nationale Behörden wollen ihre Informationen nicht mit allen anderen teilen. Viele wollen nehmen und nicht geben.“
Die Minister gelobten Besserung. Die von de Maiziere verlangte „Verknüpfung der Datentöpfe“ sowie ein Ein- und Ausreise-Register für Drittstaatler wurden als dringliche Punkte auf die EU-Tagesordnung gesetzt. Neue Ämter und Strukturen wie etwa eine gemeinsame europäisches Anti-Terroreinheit sind aber laut de Maiziere nicht aktuell. „Das wäre ein gewaltiger Koordinierungsaufwand unter den 28 Staaten. Ich sehe nicht, dass uns das jetzt schnell voranbringt.“