Berlin. Martin Schulz analysiert im Interview die europäischen Verhandlungen zur Flüchtlingspolitik. In einigen Punkten ist er aber skeptisch.

Martin Schulz ist ins Willy-Brandt-Haus nach Berlin gekommen, um das mäßige Abschneiden der SPD bei den Landtagswahlen zu besprechen – und den Kurs seiner Partei in der Flüchtlingskrise. Große Hoffnungen ruhen auf dem EU-Türkei-Gipfel, der am Donnerstag in Brüssel beginnt. Doch der Präsident des Europaparlaments ist skeptisch.

Herr Schulz, kann die SPD zur Tagesordnung übergehen, wenn sie in zwei Bundesländern von der rechtspopulistischen AfD überflügelt wird?

Martin Schulz: Auf keinen Fall. Das ist für uns ein gemischter Wahlabend gewesen. Wir haben in Rheinland-Pfalz einen grandiosen Wahlsieg errungen, aber wir sind bitter geschlagen worden in Baden-Württemberg und vor allem in Sachsen-Anhalt. Im Osten müssen wir von Grund auf neu überlegen, wie wir Wähler zurückgewinnen können.

Was bedeutet das für die Auseinandersetzung mit der AfD?

Ich habe eine klare Analyse: Die meisten AfD-Wähler sind keine harten Rechtsextremisten. Ihnen geht es um einen Weckruf. Sie wollen Lösungen – auch für ihre unmittelbaren Probleme: sichere Jobs, Einkommen, von denen man würdig leben kann, eine Absicherung der Lebensrisiken vom Kitaplatz bis zur Rente. Wir sind aufgefordert, hierfür konstruktive Antworten zu geben.

Sie haben einen griechischen Rechtsextremisten vor einigen Tagen aus dem Europaparlament geworfen. Empfehlen Sie diesen Umgang auch für AfD-Abgeordnete in deutschen Landesparlamenten?

Gerade in einem multinationalen Parlament sind Sätze wie „Die Türken sind geistige Barbaren“ eine rote Linie, die man nicht überschreiten darf. Wo fundamentale Prinzipien des respektvollen Miteinanders in einer Demokratie verletzt werden, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als konsequent zu handeln. Auch in deutschen Parlamenten muss man die Grenze so ziehen, dass klar wird: Wer sie überschreitet, hat mit Sanktionen zu rechnen. Wenn AfD-Politiker den Einsatz von Schusswaffen gegen Flüchtlinge fordern, darf man das ebenso wenig hinnehmen wie die rassistischen Äußerungen des griechischen Europaabgeordneten. Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten die Debatte bestimmen.

Es hat Mutmaßungen gegeben, Sigmar Gabriel könnte nach den Wahlen den Parteivorsitz aufgeben. Wie wirkt sich das Debakel in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg auf Gabriels Stimmungslage aus?

Ich habe diese Spekulationen auch gelesen. Sie sind nach der Wahl das, was sie vorher auch waren: substanzlos. Sigmar Gabriel war in den letzten Wochen in einer hervorragenden Verfassung: persönlich sowieso, aber auch, was seine Argumentation angeht.

Ist Gabriel der bestmögliche Kanzlerkandidat?

Die SPD wird Ende des Jahres über ihren Kanzlerkandidaten entscheiden. Sigmar Gabriel ist unser Parteichef und der Vizekanzler dieses Landes. Damit ist er der logische Herausforderer der Kandidatin oder des Kandidaten der Union.

Ihr eigener Platz bleibt in Straßburg und Brüssel?

Ich bin mit voller Überzeugung und aus vollem Herzen Präsident des Europäischen Parlaments. Ich habe bis zum Ende meines Mandates alle Hände voll zu tun – und keine Zeit, darüber zu spekulieren, was ich irgendwann mal mache.

Am Donnerstag findet in Brüssel ein weiteres Gipfeltreffen von EU und Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise statt. Wird endlich ein Durchbruch gelingen?

Ich bin da zögerlich. Den endgültigen Durchbruch wird es eher nicht geben. Ich kann mir aber vorstellen, dass wir einige Fortschritte erzielen. Wir werden einen weiteren wichtigen Schritt zur Lösung der Migrationskrise machen.

Notwendig wären Vereinbarungen über einen wirksamen Schutz der europäischen Außengrenzen und eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa.

Genau das müssen wir liefern. Aber schauen Sie: Ich kämpfe seit 20 Jahren für einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen – und was ist passiert? So gut wie gar nichts. Ähnlich schwierig ist es, die bereits vereinbarte gerechte Verteilung von Flüchtlingen praktisch umzusetzen, weil sich einige Länder gegen eine Aufnahme sperren. Ungarn müsste nach diesem Schlüssel gerade einmal 1294 Flüchtlinge aufnehmen, doch Herr Orbán hält darüber ein Referendum ab und sagt, das sei ein deutsches Problem! Solange wir eine solche Debatte haben und im Europäischen Rat nur einstimmig entschieden werden kann, fällt es mir schwer, optimistischer zu klingen.

Was wird aus dem Abkommen, das Europa mit der Türkei schließen will?

Damit die Vereinbarungen mit Ankara überhaupt klappen können, muss der bereits vereinbarte Mechanismus über die Umverteilung der 160.000 Flüchtlinge in Europa funktionieren. Das müssen wir in dieser Woche beim Gipfeltreffen besprechen. Den Flüchtlingen muss man dabei in aller Klarheit sagen: „Ihr habt einen Anspruch auf Schutz in Europa, wenn ihr verfolgt oder bedroht seid, aber ihr könnt euch das Land nicht aussuchen. Ihr werdet nicht alle nach Deutschland oder Schweden gehen können. Auch Portugal und andere EU-Staaten schützen euch vor Verfolgung.“ Das müssten Jean-Claude Juncker und die EU-Kommission jetzt deutlich sagen.

Wie hoch darf der Preis werden, den Europa für ein Abkommen mit der Türkei zahlt?

Grundrechte sind für die EU nicht verhandelbar. Die Türkei muss die Medienfreiheit beachten. Und sie muss begreifen, dass es für das Kurdenproblem keine militärische Lösung gibt. In anderen Fragen können wir der Türkei entgegenkommen ...

... die wären?

Ich denke an die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel über einen EU-Beitritt. Außerdem geht es um eine Visa-Liberalisierung, wobei die Türkei hier wichtige Reformprojekte durchführen muss, etwa die Einführung biometrischer Pässe. Darüber hinaus sollten wir Ankara bei der Versorgung von Flüchtlingen mit weiteren drei Milliarden Euro unterstützen, damit die Flüchtlinge heimatnah gut versorgt werden können.

Gegen jeden dieser türkischen Wünsche sperrt sich mindestens ein EU-Staat.

Ich sehe die Realität. Wir haben noch eine Menge an Überzeugungsarbeit zu leisten.

Wie lange kann Deutschland noch auf nationale Maßnahmen – schärfere Grenzkontrollen und Obergrenzen für Flüchtlinge – verzichten?

Ich sehe dafür keinen Bedarf. Einseitige Maßnahmen einzelner Staaten oder Staatengruppen führen nicht zu nachhaltigen Lösungen. Es sind selten so wenige Flüchtlinge in Deutschland angekommen wie zurzeit ...

... weil Österreich eine Obergrenze eingeführt hat und Grenzzäune auf dem Balkan entstanden sind. Horst Seehofer fühlt sich bestätigt.

Ich bin kein Anhänger Seehofer’scher Politik. Der bayerische Ministerpräsident hat ein anderes Konzept im Kopf als Angela Merkel. Ich halte es für einen Irrglauben, dass man mit nationalen Obergrenzen die Flüchtlingsfrage bewältigen kann. Menschen, die vor Assad oder den IS-Terroristen fliehen, lassen sich auch nicht von Zäunen abhalten. Wir brauchen eine europäische Lösung, die bei den Fluchtursachen ansetzt. Und wenn uns die nicht gelingt, kann Europa auseinanderbrechen.

Das Ende der EU – eine reale Gefahr?

Die meisten halten ein Auseinanderbrechen der EU für nicht sehr wahrscheinlich. Tatsache ist, dass wir derzeit ein Auseinanderdriften erleben. Die Gräben, die sich auftun, können zum Scheitern der EU führen. Kein Projekt, auch nicht die EU, ist irreversibel. Wir müssen mit all unserer Kraft verhindern, dass dies geschieht. Nur dann werden wir weiterhin in Frieden und Wohlstand auf unserem Kontinent leben können.