Berlin. Im Interview spricht BDI-Präsident Ulrich Grillo über die Flüchtlingskrise, mögliche Lösungsansätze und die Landtagswahlen am Sonntag.

Er will Zuversicht verbreiten und ist doch in Sorge, ob die Regierung in der Flüchtlingskrise das Richtige tut. Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Ulrich Grillo, sagt beim Redaktionsbesuch, warum er sich besonders über Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) ärgert.

Herr Grillo, gilt Ihr Versprechen vom September noch, allen Asylsuchenden mit Bleibeperspektive raschen Zugang zu Arbeitsplätzen zu ermöglichen?

Ulrich Grillo: Das war kein Versprechen. Die Unternehmen tun ihr Möglichstes. Man muss aber realistisch sein: Die Flüchtlinge müssen erst einmal die deutsche Sprache lernen – und sich mit Recht und Gesetz, dem Betriebssystem Deutschland, vertraut machen. Die Integration ist nicht von heute auf morgen zu schaffen und sie muss aktiv gesteuert werden. Für gute und dauerhafte Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist eine Ausbildung unerlässlich.

Anfangs gab es die Hoffnung, Flüchtlinge könnten den Fachkräftemangel lindern …

Grillo: Die Flüchtlingsintegration ist kein Ersatz für eine gesteuerte Zuwanderungspolitik, die wir in unserer alternden Gesellschaft auch weiterhin brauchen. Das ist etwas völlig anderes, als Flüchtlingen aus existenzieller Not zu helfen. Wie viele Flüchtlinge sich in den Arbeitsmarkt integrieren lassen, können wir noch nicht genau sagen. Es werden jedenfalls erst mal viel weniger sein, als sich alle wünschen. Die Inte­gration in die Gesellschaft ist ein Projekt für Jahrzehnte. Ich weiß, wovon ich spreche. Die Grillos sind ja auch Flüchtlinge …

… aus Italien, nicht aus Syrien.

Grillo: Meine Familie ist vor elf Generationen, im Jahr 1610, vor den Religionskriegen in Italien geflohen und irgendwann im Ruhrgebiet angekommen. Unsere Familiengeschichte zeigt, dass Integration gelingen kann. Jetzt ist die Politik gefragt, in die Integration zu investieren.

Tut sie das nicht?

Grillo: Vor allen Dingen streitet die Politik öffentlich. Das ist unsäglich. Wir haben eine große Koalition für große Taten, wie es Frau Merkel einmal formuliert hat. Aber im Moment steht sie für großen Streit. Damit muss endlich Schluss sein. Ich rufe Union und SPD dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Wir brauchen dringend Investitionen, etwa in vernünftige Unterbringung. Die Integration darf nicht in den Turnhallen aufhören. Wir müssen günstigen Wohnraum schaffen; und zwar dezentral, um Gettobildung in den Großstädten zu verhindern. Außerdem muss die Politik massiv in die Sprachförderung investieren – und dazu auch pensionierte Lehrer zurückholen. Diese Ausgaben bringen unser Land langfristig weiter und wirken wie ein kleines Konjunkturprogramm.

„Ich rufe Union und SPD dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden“: Ulrich Grillo
„Ich rufe Union und SPD dazu auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden“: Ulrich Grillo © Reto Klar | Reto Klar

Trägt der Mindestlohn zur Integration bei?

Grillo: Ich halte nicht viel vom Mindestlohn. Aber ich halte auch nichts davon, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge aufzuheben. Damit würden wir den Spaltpilz in die Gesellschaft tragen. Da muss auch Herr Gabriel aufpassen, den ich ansonsten sehr schätze. Der Vorschlag des Wirtschaftsministers, ein gesondertes Sozialprogramm für Deutsche aufzulegen, ist grundverkehrt. Damit wird der falsche Eindruck erzeugt, dass in der Flüchtlingskrise die Einheimischen benachteiligt würden. Mit solchen Mythen gehen die Rechtspopulisten auf Stimmenfang.

In Deutschland brennen Flüchtlingsheime, fremdenfeindliche Aufmärsche werden organisiert und die rechtspopulistische AfD steht vor einem Wahltriumph. Sorgen Sie sich um den inneren Frieden?

Grillo: Es ist sehr beunruhigend, was da passiert. Wir dürfen Fremdenfeindlichkeit nicht tolerieren. Das gehört nicht zu unserem Gesellschaftsbild und Miteinander. Jeder Volksverhetzer gehört in einen Integrationskurs. Aber es gibt eine Verunsicherung in der Gesellschaft, die nachvollziehbar ist ...

... und der man wie begegnet?

Grillo: Die demokratischen Parteien müssen sich mit den Problemen vor Ort offen und ehrlich auseinandersetzen. Sie müssen den Weg zeigen, wie die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen tatsächlich gelingen kann. Welche Chancen und Möglichkeiten dadurch entstehen, wie unser Land dadurch gewinnen kann. So lässt sich auch wieder Vertrauen gewinnen. Das ist das beste Rezept gegen rechtspopulistische Tendenzen. Für die Landtagswahlen an diesem Sonntag ist eines entscheidend: Die Bürger müssen zur Wahl gehen. Wer zu Hause bleibt, stärkt die AfD.

Leistet die Wirtschaft denn genug, um die Krise zu meistern?

Grillo: Ich finde es beeindruckend, was die deutschen Unternehmen tun. Sie stellen Praktika und Ausbildungsplätze bereit – und schaffen damit wichtige Voraussetzungen für die Integration. Außerdem tragen sie zur Bekämpfung von Fluchtursachen bei. Unternehmen beteiligen sich in den Krisenregionen am Wiederaufbau. Gerade werden die Weichen für Investitionen in Jordanien gestellt, wohin viele Syrer geflohen sind. Aber klar ist: die Unternehmen können der Politik nicht die Verantwortung abnehmen.

Kommt Deutschland – anders als der österreichische Nachbar – ohne Obergrenzen aus?

Grillo: Eine Obergrenze verschiebt das Problem doch nur. Aus den Augen, aus dem Sinn – das ist eine allzu bequeme Art mit dieser Herausforderung umzugehen. Europa insgesamt muss das Problem lösen. Dabei geht es um die Sicherung der Außengrenzen und um eine vernünftige, solidarische Quotenregelung, an der sich möglichst viele der 28 Mitgliedstaaten beteiligen.

Funktioniert der europäische Binnenmarkt wirklich nur mit offenen Binnengrenzen?

Grillo: Einer der wesentlichen Wettbewerbsvorteile Europas sind die offenen Binnengrenzen. In Europa stammen drei Viertel der Zulieferungen für Industrieprodukte aus anderen europäischen Ländern. Nirgendwo sonst auf der Welt ist dieser Anteil so hoch. Wenn Gütertransporte tagelang an Grenzübergängen aufgehalten werden, wird das zum Problem. Wir müssen alles dafür tun, das Schengen-System zu erhalten.