Idomeni. Woher kommen die Menschen, wohin wollen sie? Eine Reportage aus dem Camp der Verzweifelten an der mazedonisch-griechischen Grenze.

Vier Meter weiterkommen. Vielleicht nur drei. Mehr nicht, verdammt. Dann wäre dieser Tag ein ganz wunderbarer Tag, sagt Zahraa. Diese vier Meter sind es doch nur – und Zahraa wäre ihrem Ziel einen großen Schritt näher. Sie will nach Schweden. Dorthin, wo schon ihre beiden älteren Brüder sind. Doch zwischen der Irakerin Zahraa, gerade 16 Jahre alt, und ihrem Traum steht der Zaun, 38 Kilometer lang. Sein Stacheldraht glitzert in der Sonne.

An den Zacken hängen Plastiktüten und Wolldecken. Und hier, am Zaun von Idomeni, einem kleinen Dorf an der griechischen Grenze zu Mazedonien, bleibt gerade auch Zahraas Hoffnung auf ein besseres Leben hängen. Seit vier Tagen ist sie mit ihrer Familie hier. Seit vier Tagen geht nichts mehr.

Aber Zahraa will nicht aufgeben. Also geht sie noch einmal los. Vorbei an den Zelten, in denen Mütter ihre Babys stillen. Vorbei an den Männern, die auf einem Flecken Gras sitzen und über ihre Handys wischen. Durch den Schlamm, den die Sonne langsam trocknet. Durch den Gestank nach Urin, den die warmen Sonnenstrahlen aus den Dixi-Klos treiben.

Zahraa bekommt immer wieder die gleiche Antwort: keine

9000 Menschen sollen mittlerweile an der Grenze zu Mazedonien ausharren. Genau weiß das niemand. Sie stehen im Matsch, auf Feldern, im Gebüsch, an der alten Bahnhofshalle von Idomeni. Sie stehen im Nirgendwo von Europa. Das kleine Idomeni ist zum Symbol für das große Versagen eines Kontinents geworden, der die Flüchtlingskrise nicht beherrschen kann.

Dann steht Zahraa vor den Polizisten. „Entschuldigen Sie“, sagt sie, „wann öffnen Sie die Grenze?“ Das wisse hier niemand, antwortet ein griechischer Polizist. Das wüssten nur die Mazedonier auf der anderen Seite. Aber die sagen nichts. Außer, dass die Grenze dicht bleibe. Für jetzt jedenfalls. „Ok. Ja, verstehe“, sagt Zahraa. Sie richtet ihr Kopftuch. „Entschuldigen Sie die Störung.“ Dann dreht sie sich um, wieder die gleiche Antwort, wieder nichts.

Zahraa ist vor 20 Tagen aus dem Irak geflohen. Gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Schwester, deren Mann und ihren beiden kleinen Kindern. Ihr Haus in Bagdad sei bei einer Bombenexplosion eines Selbstmordattentäters getroffen worden, erzählt Zahraa. Sie mussten bei Verwandten unterkommen, sogar Tage auf der Straße leben. Überhaupt, sagt sie, im Irak sei es zu gefährlich für eine Jugend. Für ein Leben.

Die Zäune werden nach dem Regen als Wäscheleine genutzt

Vor ein paar Monaten sei ihr Vater abends zum Supermarkt gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Überall hätten sie gefragt. Sie haben nichts erfahren, wissen nicht, ob er noch lebt. Irgendwann wollten Zahraa und ihr Cousin Mohaned nur noch weg. „Mein Vater hätte gewollt, dass wir in ein besseres Leben aufbrechen.“ Die Mutter war lange dagegen. Irgendwann setzten sie sich durch. Die Familie zog los.

Zahraa ist zurück an dem Zelt, in dem die Familie jetzt lebt. Die kleine Malak hat ihre Barbiepuppe zwischen die Zeltstangen geklemmt, auf dem gespannten Stoff trocknen Hosen und Pullover. Letzte Nacht prügelte der Regen auf die Erde von Idomeni ein. Die Menschen krochen in ihre Zelte, die Nässe kroch ihnen hinterher. Jetzt sind die Zäune zwischen Bahngelände und Grenze eine riesige Wäscheleine.

Etwas später kommt Zahraas Mutter zu ihrem Zelt. Sie trägt einen Mantel und eine schwarze Ledertasche, als käme sie von einem Geschäftstermin. Aber die Frau hat die Nacht vor dem Zaun geschlafen, Rücken an Rücken mit Dutzenden anderen Geflohenen. Sie wollte ihren Platz nicht aufgeben. Wenn das Tor doch noch öffnet, will sie da sein. Die Handtasche ist ihr letztes bisschen Würde zwischen Dreck, Gestank und der Kälte der Nacht.

Die Menschen zahlen 800, 1500 oder mehr Dollar an einen Schlepper

Auch Zahraas Familie ist über die Türkei nach Griechenland gekommen. Die Route der Menschen verläuft fast immer gleich. Aus Syrien, Irak oder Afghanistan brechen sie auf, schaffen es nach Istanbul oder Izmir. Die Menschen zahlen 800, 1500 oder mehr Dollar an einen Schlepper. In einem Schlauchboot schippern sie auf die griechischen Inseln wie Lesbos oder Samos, werden dort von Beamten registriert. Dann können sie weiter, aufs Festland. Busse bringen sie in die Lager in Thessaloniki oder Athen. Von dort machen sich die Flüchtlinge oft auf eigene Faust auf den Weg Richtung mazedonische Grenze. Im Bus, wenige im Taxi. Dann die letzten Kilometer zu Fuß, weil die Polizei die Straßen kontrolliert.

Stündlich füllt sich das Lager weiter. Frauen tragen Kinder auf dem Rücken, Männer Taschen mit Wasser und Kleidung. Manche laufen über die Felder in Richtung Grenzzaun. Wolldecken und Plastikflaschen im Straßengraben sind die Wegweiser der großen Flucht.

Im Polizeicontainer bekommt jede Gruppe von 30 oder 50 Personen dann von den griechischen Beamten eine Nummer. Zahraas Familie und die Gruppe, mit denen sie angekommen sind, haben die 169. Vier Tage ist das her. Noch immer sitzen vor dem Zaun auch Menschen, die einen Zettel mit der Nummer 15 in ihrer Tasche haben.

Gerüchte verbreiten sich im Lager wie der Rauch der Feuer

Seit Tagen lassen die mazedonischen Polizisten nur etwa 50 Menschen am Tag rein. Drei Tage lang sind es 300, dann darf drei Tage lang kein einziger passieren. Das berichten Helfer und Polizisten auf der griechischen Seite. Es heißt, sobald Österreich wieder mehr Flüchtlinge aufnehme, würde auch Mazedonien die Grenze öffnen. Gerüchte verbreiten sich im Lager von Idomeni so schnell wie der Geruch der Lagerfeuer vor den Zelten.

Mehr weiß auch Sawsan nicht. Die Frau aus Jordanien mit den langen braunen Haaren trägt eine blaue Weste. „UNHCR“ steht darauf. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist mit knapp 20 Mitarbeitern in Idomeni. Gerade steht Sawsan auf einer Holzpalette vor dem weißen Container. Vor ihr eine Traube an Männern und Frauen. Sawsan spricht Arabisch, die Menschen antworten. Man versteht die Worte nicht. Aber man versteht das Kopfschütteln der Männer, die mit ihren griechischen Papieren wedeln. Mütter, die auf ihre Kinder zeigen, ein Mann, der den Bauch seiner schwangeren Frau berührt.

Auch der Helferin Sawsan fehlen manchmal die richtigen Worte für diese Gesten der Verzweiflung, sagt sie später. Also schiebt sie Formalitäten zwischen sich und ihre Gefühle, erklärt den Flüchtlingen, dass sie warten müssten, zeigt ihnen den Weg zu den Duschen oder reicht ein paar Decken. „Es ist eine Katastrophe“, sagt sie. Trotz der vielen Organisationen vor Ort fehle es an Decken, Zelten und auch Essen. Manchmal, wenn es Sawsan zu viel werde, gehe sie zurück in den Container des UNHCR und schließe die Tür.

Auch die Flüchtlinge wissen, wie Bilder wirken

Es gibt viel Leid, das Europa am Zaun von Idomeni zulässt. Das Schlimmste aber, das sagen viele der Syrer und Iraker, sei die Ungewissheit. Das Schweigen der mazedonischen Polizisten, wenn Flüchtlinge durch den Zaun fragen: Wann lasst ihr uns durch?

Plötzlich bricht die Stille. 200 Syrer und Iraker demonstrieren vor den Bussen der Polizei. „Open the borders“, skandieren sie. Und: „Germany, help us!“ Sie fassen sich an die Schultern, haken die Arme ineinander, hüpfen. Um sie herum stehen Kameraleute und filmen. Am Tag vorher eskalierte die Situation, Flüchtlinge versuchten, das Tor am Zaun mit Eisenstangen aufzubrechen, Steine aus dem Gleisbett flogen. Die mazedonischen Polizisten antworteten mit Tränengas.

Jetzt steckt der junge Fahed ein paar Blumen in den Stacheldrahtzaun. Der Syrer hält sein Kind an der Hand, gerade ein Jahr alt. Fotografen rücken näher, eine Journalistin will ein Interview. Der Syrer, das kleine Kind, die Blumen, der Stacheldraht. Auch die Geflohenen wissen, welche Bilder wirken.

Alle hoffen darauf, dass die Grenze geöffnet wird

Der Helikopter der mazedonischen Armee kreist über dem Zaun. Das Knattern der Rotoren erstickt die Gespräche. Und Zahraa erzählt, dass die sechs Jahre alte Malak gestern fragte, ob sie wieder zurück im Irak seien. Wegen der Uniformen, der Hubschrauber. Es sind Szenen wie im Kriegsgebiet.

Gehen sie wieder zurück? Die Mutter will nicht mehr. „Ich bin müde“, sagt sie. Zahraa übersetzt ins Englische. Auch ihre Schwester habe keine Kraft mehr, sagt sie. „Die sind wütend auf mich“, sagt Zahraa. Weil sie bleiben wolle. Noch einen Tag. Dann werde die Grenze bestimmt geöffnet.

Durchhalteparolen für ihre Träume. In Schweden möchte sie die Schule fertig machen, will studieren und arbeiten.

Es ist Nachmittag geworden in Idomeni. Spatzen picken Plastikmüll auf. Die Schlange vor der Essensausgabe ist auf 250 Meter angewachsen. Und vor dem Zaun, auf der mazedonischen Seite, fährt ein Bus vor. Passiert jetzt was? Können sie durch? Zahraa läuft zum Tor. Auf dem Weg durch Zelte und Menschen erzählt sie, dass sie Make-up dabei habe, Wimperntusche und Nagellack. „Wenn ich zu meinen Brüdern nach Schweden komme, will ich gut aussehen.“ Sie bleibt hinter Dutzenden Männern vor einer Absperrung stehen, den Zaun kann sie kaum sehen. Dann aber gehen die Ersten aus dem Pulk wieder zurück zu den Zelten, schütteln den Kopf. Aus dem Bus steigen noch mehr mazedonische Polizisten aus.