Berlin. Ja-aber-Hetzer berufen sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung. Doch was umfasst sie eigentlich? Zwei Experten erklären das.

Die Zahl der volksverhetzenden Äußerungen ist im vergangenen Jahr rasant gestiegen: Laut der Beschwerdestelle Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia (FSM) haben sich die Beschwerden im Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. Auch verbreiten Menschen im Netz immer mehr rechtsradikale Inhalte: 256 Beschwerden verzeichnete die Beschwerdestelle im vergangenen Jahr – eine Verachtfachung.

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, steht in Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Doch wo genau verlaufen die Grenzen zwischen Volksverhetzung und freier Meinungsäußerung? Zwei Experten bringen Ordnung in die hitzige Debatte.

1. Unterschied zwischen Meinung und Tatsache

„Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder Bürger sagen kann, was er will – solange es sich um eine Meinung und nicht um eine Tatsachenbehauptung handelt“, sagt Professor Martin Heger von der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Unterschied zwischen Meinung und Tatsache: Eine Tatsache ist einem Beweis zugänglich, sagt Heger. Sie ist richtig oder falsch.

Ein Beispiel: Wenn jemand den Holocaust leugnet, dann äußert er keine Meinung, sondern eine Tatsachenbehauptung, die klar widerlegbar ist. „Das fällt unter Paragraf 130 des Strafgesetzbuches: Volksverhetzung.“ Der dritte Absatz des Paragrafen bezieht sich direkt auf den Holocaust: „Wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung (...) öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost“, der muss mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen.“

In anderen Ländern regelt die Verfassung die Meinungsäußerung anders: Die Redefreiheit in den Vereinigten Staaten („Freedom of Speech“) beispielsweise erlaubt es auch, den Holocaust zu leugnen.

2. Schmähkritik und Beleidigung

Geht es bei einer Meinungsäußerung vor allem darum, eine einzelne Person herabzuwürdigen, spricht man von Schmähkritik. Laut Bundesverfassungsgericht ist sie sehr eng zu definieren, um die Meinungsfreiheit nicht zu beschränken. Daher ist es erlaubt, das Verhalten eines Richters in einem konkreten Fall als „schäbig“ zu bezeichnen, einen Staatsanwalt als „durchgeknallt“ oder einen Arzt als „Scharlatan“. Nicht statthaft ist hingegen der pauschale, diffamierende Ausdruck „Meisterbetrüger“, mit dem ein Anwalt einen Kollegen überzog. Als strafbare Beleidigung gelten zudem Schimpfwörter wie „Schlampe“ oder „Arschloch“. Berühmt wurde etwa das Zitat „Soldaten sind Mörder“ von Kurt Tucholsky: Der Satz kann als pauschales Werturteil interpretiert werden und ist erlaubt. Die Aussage „Soldat Max Mustermann ist ein Mörder“ hingegen kann als Schmähkritik aufgefasst werden.

Laut dem Juristen Professor Johannes Weberling von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder schränkt hier das Recht auf persönliche Ehre die Meinungsfreiheit ein. „Dies ist insbesondere bei Schmähkritik der Fall“, so Weberling. Meinungsäußerungen sind nicht zulässig, wenn ihr Zweck die Verletzung der Ehre eines Menschen ist. Wie so oft im Recht ist das eine Frage der Abwägung.

3. Was Volksverhetzung und Beleidigung unterscheidet

Ganz praktisch: Im Falle einer Beleidigung muss sich ein Einzelner konkret gegen einen andere Person wehren und Strafanzeige stellen. „Das ist immer etwas individuelles“, sagt Heger. Wenn es sich um eine Tatsachenbehauptung handelt, muss diese unwahr sein. „Wenn jemand eine Frau Prostituierte nennt, und sie tatsächlich eine Prostituierte ist, dann ist das keine Beleidigung“, so der Jurist. Zudem sind die Grenzen dem gesellschaftlichen Wandel und Status Quo unterworfen. So galt das Wort „Homosexueller“ vor einigen Jahrzehnten, als Homosexualität noch unter Strafe stand, juristisch als Beleidigung.

Im Falle der Volksverhetzung muss die Strafanzeige nicht vom Opfer gestellt werden, irgendeine Person kann die Anzeige entweder bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Amtsgericht mündlich oder schriftlich stellen. Bei Volksverhetzung handelt es sich um ein sogenanntes Offizialdelikt; der Staatsanwalt muss bei Tatverdacht also auch ohne Anzeige Betroffener ermitteln.

4. Warum Volksverhetzung gefährlich ist

Zunächst geht es um Ausgrenzung. „Zum Beispiel aufgrund von Religion, Herkunft oder Ethnie“, sagt der Jurist Heger. Die volksverhetzenden Äußerungen stacheln Bürger dazu an, dass Menschen gegenüber der ausgegrenzten Gruppe übergriffig werden. Wer gegen Asylbewerber und Ausländer hetzt, dies aber in den eigenen vier Wänden im Gespräch mit einem Bekannten geschieht, ist noch kein Volksverhetzer. Professor Heger: „Der öffentliche Friede wird erst bedroht, wenn solche Äußerungen ein gewisses Publikum bekommen: Also zum Beispiel auf einer Versammlung, Kundgebung oder durch Kommentare in Sozialen Netzwerken.“

Professor Weberling formuliert es deutlich: „Volksverhetzung ist eine unmittelbare Missachtung der in Artikel 1 des Grundgesetzes verbürgten Menschenwürde. Die Würde des Menschen ist bekanntlich unantastbar. Wer dies nicht respektiert, hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts am Hut.“ Wer die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen missachte, ihn sozusagen aus niederen Motiven verbal zum „Freiwild“ macht oder „zum Abschuss“ freigibt, lege die Axt an die Grundlagen unserer Rechtsordnung und unseres menschlichen Zusammenlebens. (mit Material von dpa)