Berlin. Wie blickten die DDR-Bürger auf den Staat? Unveröffentlichte Briefe der Bevölkerung eröffnen eine neue Sicht auf die Stimmung im Land.

Die Familie aus Dresden muss etwas auf dem Herzen gehabt haben, als sie Erich Honecker bereits zum zweiten Mal zu sich nach Hause einlud. „Hiermit komme ich auf meinen Brief vom vergangenen Jahr (1976) zurück und möchten Sie nochmals für einen netten Samstag-Nachmittag einladen. Uns liegt viel daran daran Sie einmal persönlich kennenzulernen. Außerdem wäre das ein Beweis dafür, daß Sie wirklich auch einmal für das Volk sind.“*

Der Brief an den Staatschef der DDR wurde sogar mit dem Familiennamen unterschrieben, den Adressaten hat er nie erreicht. Solche Briefe mit oppositionellen Gedanken oder auch nur leichter Kritik wurden gleich an die „Hauptabteilung XX“ der Staatssicherheitsbehörde weitergeleitet. Die entschied über die weitere „Bearbeitung“.

250 Briefe von Bürgern abgedruckt

Nach dem Ende der DDR kamen diese Briefe in die Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen. Dort recherchierte und arbeitete auch der Politologe Siegfried Suckut. 2009 forschte er für eine Dokumentation über Berichte, die die Stasi an die politische Führung gegeben hat. „Ich fand diese Stimmungsberichte besonders spannend und fragte mich, was ist eigentlich deren Grundlage gewesen? So kam ich auf Hauptabteilung XX“, erklärt Suckut. Für sein gerade erschienenes Buch „Volkes Stimmen – Ehrlich aber deutlich – Privatbriefe an die DDR-Regierung“ sammelte er rund 1000 dieser Schreiben, 250 sind im Buch abgeschrieben oder als Faksimile gedruckt.

Diese Dokumente helfen, eine Lücke in der bisherigen Erforschung der DDR-Geschichte zu schließen. Sie sind wie Mosaik-Stückchen des Alltagsleben in der DDR und zeigen auf, wie sehr sich die Bürger um den Zustand ihres Landes bemüht und zugleich gesorgt haben. „Viele litten unter den Umständen und hofften, dass Erich Honecker ihre Briefe lesen würde. Auf der anderen Seite sollten die meist anonymen Postkarten und Briefe der Führung ein schlechtes Gewissen machen und sagen: Wir haben euch durchschaut.“

Schreiben sind kritisch und deutlich

Suckut schreibt, dass viele Bürger der SED-Partei beitraten, um ihre Aufstiegschancen zu verbessern. Zum Schluss hatte die Partei 2,3 Millionen Mitglieder, fast 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung waren „Genossen“. Hinzu kamen rund 400.000 Angehörige der vier Blockparteien – Organisationen, die sich uneingeschränkt zur Politik der kommunistischen Führungspartei bekannten und von ihr kontrolliert wurden. Betrachtet man nur die Zahlen, „dann hatte die SED-Führung recht, wenn sie auf die hohe Zustimmung für ihre Politik innerhalb der Bevölkerung verwies“.

Ungewiss blieb, was die Menschen wirklich dachten. Gerade die anonymen Briefe geben Aufschluss, denn sie sind kritisch und deutlich. Und waren in dem Bewusstsein geschrieben, dass sie Probleme schaffen würden. Manchmal fuhr der Absender durch das halbe Land, um einen Brief abzuschicken, aus Angst vor Rückverfolgung und Entdeckung. „Die Chance anonym zu bleiben, war nicht so gering“, sagt Suckut.

Auf „staatsfeindliche Hetze“ standen hohe Strafen

Meist wurde ein solcher Brief von der Staatssicherheit abgefangen und untersucht. Auf „staatsfeindliche Hetze“ konnten hohe Strafen folgen. Zu der sogenannten Hauptabteilung XX gehörte auch die Schriftenfahndung. Dort wurden Tausende Notizen zu Handschriften und Schreibmaschinen in der DDR gesammelt. „Die guckten danach: Haben wir die Schrift oder Maschine registriert?“ Über ein Ziffersystemen konnte die Stasi Schreibmaschinen charakterisieren und zuordnen. „Das war wie eine Rasterfahndung“, sagt der Autor. Die Bezirks- und Kreisverbände fahndeten über Inhalt, die Hauptabteilung über Schriftenvergleich.

Welche Folgen ein Beschwerdebrief wie zum Beispiel der einer Verkäuferin im September 1977 haben konnte, hat Suckut nicht immer erforscht. Eine Frau aus Halle schrieb handschriftlich an Fernsehmoderator Karl-Heinz Gerstner: „Ich wende mich heute mit der Bitte an Sie, warum solch ein „Kaffee Mix“ in den Handel gekommen ist. Ich bin Verkäuferin und höre mir jeden Tag die Klagen von den Kunden an. In bin selbst der Meinung, das der Kaffee Mix zu 6,-M nicht zu genießen ist. Es ist das reinste Rattengift.“ Gerstner kommentierte einmal wöchentlich die Wirtschaftsentwicklung in der DDR im Rundfunk und moderierte das Fernsehmagazin Prisma. Der „Kaffeekrise“ in der DDR und dem anscheinend ziemlich unappetitlichen Mix-Kaffee sind mehrere Briefe und sogar Gedichte gewidmet worden.

Dokument 243 ist ein Brief vom November 1982 an das Ministerium für Staatssicherheit, darin kündigt ein Spion sein Arbeitsverhältnis. Er beginnt mit einem schnörkellosen „Betr.: Kündigung“ und löst im weiteren Schmunzeln aus: „Ihr Dreckskerle könnt mich kreuzweise am Arsch lecken. Ich habe mich für die Konkurrenz entschieden und bin im Begriff einige HVA Leute von der Normannen Straße hochgehen zu lassen. Rollen könnt Ihr mich nicht. Dazu seid Ihr ein wenig zu blöde. Ab sofort werde ich Euch das Leben schwer machen.“

Er endet mit: „Ein ehemaliger Mitarbeiter in der BRD.“ Der ehemalige Spion war in die Bundesrepublik geflüchtet. Mit „HVA“ ist die Hauptverwaltung Aufklärung gemeint, der Auslandsnachrichten Dienst der DDR und „Rollen“ ist der umgangssprachliche Begriff für das Entführen und Rückführen eines Spions. Siegfried Suckut interpretiert: „Der wollte seinem Dienstherren Erich Mielke noch einmal eins auswischen. Er stand sicherlich unter dem Schutz des Bundesnachrichtendienstes.“

Sehr persönlicher Brief und deutlich in der Ablehnung

Am meisten beeindruckt hat Suckut der anonyme Brief einer Frau, die im August 1983 Erich Honecker handschriftlich zum Geburtstag gratuliert hat. Die Verfasserin beginnt: „Wie schläft man nachts, wenn man weiß, daß man viele Menschen quält, unmenschlich behandelt, unterdrückt und einmauert??? Zum Geburtstag wünsche ich Ihnen alles Unglück, wie ich es selber auch durch Sie habe und ertragen muß. Ich hasse alles hier, alles. Ich werde immer dagegen ankämpfen, solange ich hier eingesperrt werde. ... Sie haben Glück, daß Sie die Menschen schon zu Kriechern gemacht haben, sonst hätten Sie es vielleicht gar nicht bis zu Ihrem jetzigen Geburtstag gebracht.“

Dieser Brief sei persönlich, so Suckut, und sehr deutlich in der Ablehnung. Nicht jeder Brief sei so drastisch, nur ein Drittel der Schreiber übte fundamental Kritik oder forderte freie Wahlen. „Aber der Mut dieser Frau ist überragend.“ Die Staatssicherheit versuchte mit umfangreichen kriminaltechnischen Untersuchungen, sie ausfindig zu machen. Das misslang, weil die Speichelreste an den Briefmarken zu gering waren. Die Verfasserin wusste, welche Wirkung ihr Brief haben würde – er endet mit einer Warnung: „Passen Sie auf, daß man solche Briefe nicht im Westen veröffentlicht. Das wäre die gefundene Sache fürs ZDF. Mit der Überschrift ‘Verzweifelte Bürger an Honecker’ und ihre anschließende Inhaftierung.“ Suckut hat ihr mit seinem Buch Rechnung getragen.

Die Briefe sind im Original zitiert – mögliche Rechtschreibfehler und alte Rechtschreibung sind nicht korrigiert.