Brüssel/Berlin. Bei der Verteilung der Flüchtlinge in Europa fährt die Kanzlerin einen einsamen Kurs. Es formiert sich eine Koalition der Unwilligen.

Es sollte ein „Schicksalsgipfel“ werden, zumindest ein „Entscheidungsgipfel“. Das an diesem Donnerstag beginnende Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel war wochenlang in fast allen europäischen Hauptstädten mit pathetischen Worten intoniert worden. Angesichts des nicht abebbenden Flüchtlingsstroms musste nichts weniger als ein Durchbruch her.

Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst hatte hohe Erwartungen geweckt. Bei ihrem Besuch in Ankara vor anderthalb Wochen kündigte die CDU-Politikerin eine „Koalition der Willigen“ zur Eindämmung der Flüchtlingskrise an. Der Weg der Migranten aus Syrien über die Türkei solle nicht illegal verlaufen, sondern „kontrolliert, legal und von uns organisiert“, sagte sie. Über die Aufnahme der Schutzsuchenden in Kontingenten erklärte die Kanzlerin: „Wir können nicht von der Türkei auf der einen Seite erwarten, dass sie alles stoppt, und auf der anderen Seite sagen wir: Ja, aber über die Kontingente sprechen wir dann in einem halben Jahr.“

Merkels „Koalition der Willigen“ hat sich aufgelöst. Die Kanzlerin ist isoliert. Streng genommen gibt es sogar eine Anti-Merkel-Allianz gegen das von ihr verfochtene Konzept der europaweiten Verteilung von Flüchtlingen.

Auch Österreichs Kanzler Faymann wendet sich ab

Das war einmal anders. In früheren Zeiten soll die Kanzlerin einmal über ihren österreichischen Amtskollegen Werner Faymann gesagt haben: „Er kommt mit keiner Meinung rein und geht mit meiner Meinung wieder raus.“ Der deutsch-österreichische Schulterschluss galt lange als gegeben, auch in der Flüchtlingskrise.

Anfang September hatte Merkel noch mit Faymann telefoniert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion vereinbarten beide den Transport von vielen Tausend Migranten vom Budapester Hauptbahnhof nach Deutschland. Die österreichischen Polizisten ließen die Notleidenden anstandslos passieren. Es war die Zeit, als jubelnde Menschen die Migranten in München begrüßten. Die Bilder der neuen deutschen Willkommenskultur gingen um die Welt.

Auch Frankreich legte eine Wende hin

Heute klingt Faymann völlig anders. Seine Regierung plant weitere Grenzzäune. Die Südgrenze Österreichs soll lückenlos kontrolliert werden, auch der für den Verkehr nach Italien so wichtige Brennerpass. Regierungen, betont Faymann nun, müssten „mit Blick auf die Realität“ Beschlüsse fassen. Und kommt zur krachenden Schlussfolgerung: „Das haben wir getan, und da glaube ich, dass wir Schritte gesetzt haben, die Deutschland auch noch setzen wird. Ich bin persönlich überzeugt, dass wir da bald wieder im Gleichklang sein werden.“

Auch Frankreich legte eine Wende hin, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Präsident François Hollande vermittelte nach außen stets den Eindruck, in der Flüchtlingskrise an der Seite der Kanzlerin zu stehen. Doch sein Premierminister Manuel Valls zog im Interview mit dieser Zeitung die Notbremse: Merkels Flüchtlingspolitik „ist auf Dauer nicht tragbar“. Sein Land werde innerhalb von zwei Jahren die zugesagten 30.000 Migranten aus dem EU-weiten Kontingent von 160.000 Menschen aufnehmen. Rien ne va plus! Das Büro von Präsident Hollande betonte zwar postwendend die Solidarität mit Deutschland. Doch dies war nur ein hektischer Akt von Polit-PR. Paris wollte am Bild vom viel beschworenen deutsch-französischen Motor in der EU nicht kratzen.

Großbritannien will Syriens Nachbarländern helfen

Die der sozialistischen Regierung eher wohlgesonnene Zeitung „Le Monde“ brachte es auf den Punkt: Premier Valls „hat den Anstand, die Dinge klar zu machen: Seit dem Beginn der Krise haben Angela Merkel und François Hollande so getan, als wären sie einer Meinung, dabei war das nicht so.“

Dass die britische Regierung einen anderen Kurs verfolgt, überrascht hingegen nicht. „Die Politik Großbritanniens besteht weniger darin, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir wollen gezielt den Nachbarländern Syriens helfen“, sagte der britische Botschafter in Berlin, Sebastian Wood, dieser Zeitung. Londons Marschroute: Die Menschen sollen in den Flüchtlingslagern in der Türkei, dem Libanon und Jordanien eine Zukunft haben.

Der größte Widerstand gegen Merkels „organisierte“ Aufnahme von Flüchtlingen kam aus Mittel- und Osteuropa. Die Regierungen von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei – die sogenannten Visegrad-Staaten – warfen Griechenland vor, zu wenig zu tun, um die EU-Außengrenze zur Türkei zu schützen. Sie sprachen sich stattdessen dafür aus, die Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland dicht zu machen, um den Flüchtlingstreck über die Balkanroute zu stoppen. Ungarn entsandte bereits Polizisten nach Mazedonien und lieferte 25 Kilometer Stacheldrahtzaun.

„Bestandsaufnahme“ statt „Schicksalsgipfel“

Doch plötzlich hat sich die Tonlage in der EU geändert. Kurz vor Beginn des am Donnerstag beginnenden Brüsseler Gipfels sind die Weichspüler am Werk. Niedriger hängen, Dampf rausnehmen, bloß keinen offenen Konflikt, heißt die Devise. Nun ist nicht mehr von einem „Schicksalsgipfel“ die Rede, sondern von einer „Bestandsaufnahme“. Im Stab des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk heißt es: „Wir sollten Bilanz ziehen, wie sich die Dinge seit Dezember entwickelt haben.“ Und ein Diplomat aus einem osteuropäischen EU-Staat pflichtete bei: „Wenn Sie auf den jüngsten Tag lauern, muss ich Sie enttäuschen.“ Will heißen: Hier und jetzt muss noch nicht entschieden werden, ob Merkels Kurs in der Flüchtlingspolitik als kompletter Fehlschlag abgebucht wird – mit allen schwerwiegenden Konsequenzen für den Zusammenhalt der EU.

Stillschweigend haben sich Befürworter wie Gegner der deutschen Linie auf eine Galgenfrist verständigt: Bis zum nächsten Treffen der EU-Chefs Mitte März soll Merkel Zeit haben. Bis dahin müsse sie zeigen, dass ihre Rezeptur geeignet sei, die Zahlen der nach Europa drängenden Flüchtlinge spürbar zu senken. Was bedeutet das konkret? „So nah bei null wie möglich“, heißt es im Lager der Polen, Ungarn, Tschechen und Slowaken.

Der Showdown wurde vertagt

Diese haben sich bei einem Vorbereitungstreffen vergleichsweise zurückhaltend geäußert und darauf verzichtet, den Gipfel zum Tag des Showdowns auszurufen. Andererseits handelt es sich bei dem Märztermin aus ihrer Sicht um ein Ultimatum: Wenn bis dahin nichts passiere, „müssen wir uns Alternativen überlegen“, sagen Diplomaten in Brüssel.

Wie die aus osteuropäischer Sicht aussehen, ist kein Geheimnis mehr: Die nationalen Grenzen sollen hochgezogen werden, das Schengensystem mit dem freien Binnenverkehr würde endgültig Vergangenheit. Griechenland stände praktisch mit dem riesigen Flüchtlingsproblem allein da. Das will nicht nur die Kanzlerin um jeden Preis verhindern. „Ein Schengenausschluss Griechenlands löst kein einziges unserer Probleme“, erklärte das Team von EU-Ratspräsident Tusk. Deswegen gebe es auch „keine Pläne A, B, C“. Vielmehr müsse der „Aktionsplan“ der EU mit der Türkei umgesetzt werden. Also: Ankara kon­trolliert besser seine Außengrenzen, geht verstärkt gegen kriminelle Schleuser vor und bekommt dafür unter anderem drei Milliarden Euro aus Brüssel.

Kommissionspräsident Juncker vergleicht Merkel mit Kohl

Ob die Bundeskanzlerin politisch einigermaßen ungeschoren davon kommt, wird davon abhängen, ob sie die Aussicht auf Resultate verbessern kann.

Immerhin einen prominenten Fürsprecher hat die Kanzlerin auf ihrer Seite. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker verglich Merkels Flüchtlingskurs in der „Bild“ mit der Wiedervereinigungspolitik von Helmut Kohl: „Die Geschichte hat ihm recht gegeben, und sie wird Angela Merkel recht geben.“