Berlin. Mediziner aus Göttingen finden bei Flugreisenden Schadstoffe, die vermutlich aus den Triebwerken stammen. Wie groß ist das Problem?

Vor fast 20 Jahren gab es erste Hinweise darauf, dass die Kabinenluft in Passagierflugzeugen mit Rückständen von Öl oder Hydraulikflüssigkeit angereichert sein und krank machen könnte. Die Fachleute sprechen vom „aerotoxischen Syndrom“. Seit Jahren verdichten sich die Erkenntnisse von Wissenschaftlern. Mediziner aus Göttingen stützen den Verdacht. Bei Untersuchungen von mehr als 140 Menschen, die nach Flügen über gesundheitliche Probleme klagten, fanden sie in Blut, Urin und Speichel Schadstoffe oder deren Abbauprodukte, die das Nerven- und Herz-Kreislauf-System angreifen können.

Bundesstelle hat Zahlen

Bei fast allen Passagierflugzeugen wird die Kabinenluft aus den Triebwerken „abgezweigt“. Verunreinigungen der Kabinenluft, sogenannte Fume-Events, treten nur im Fall einer Störung oder eines Unfalls auf. Für Deutschland sind die offiziellen Zahlen dieser Unfälle im Zeitraum 2006 bis 2013 bekannt. Laut einer Untersuchung der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) gab es 663 Meldungen. „In 460 Fällen wurde das Auftreten von Geruch und in 188 Fällen eine Rauchentwicklung mitgeteilt“, so die BFU. „In 15 Fällen hat es weder Rauch noch Geruch, aber gesundheitliche Beschwerden gegeben, die mit einem entsprechenden Unfall in Verbindung gebracht werden konnten.“

Der tourismuspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Markus Tressel, glaubt, dass die echte Zahl der Zwischenfälle höher ist. „Wir haben eine relativ hohe Dunkelziffer“, sagt Tressel unserer Redaktion. Grund sei ein unklares Meldeverfahren. „Die Spielräume dafür, was ein Vorfall ist und was nicht, sind zu groß.“ Tressel vermutet, „dass die Fluggesellschaften nicht jeden Vorfall melden, weil sie kein Interesse daran haben, das Thema Kabinenluft noch relevanter zu machen“. Schließlich könnten den Airlines Entschädigungen in Millionenhöhe für fluguntaugliche Mitarbeiter drohen. „Wenn herauskäme, dass sie wider besseres Wissen ihr Personal in einer kontaminierten Kabinenluft haben fliegen lassen, wäre das, wenn man das zu Ende denkt, fahrlässige Körperverletzung“, sagt Tressel.

Ungefiltert aus dem Triebwerk

Seit den 60er-Jahren werden Flugzeugkabinen mit Luft versorgt, die aus den Düsentriebwerken abgezapft und ungefiltert in die Kabine geleitet wird. Bei einem ordnungsgemäß arbeitenden Triebwerk gelangt so nur saubere Außenluft ins Flugzeug. Gerade bei großen Belastungen an den Triebwerken, etwa bei Starts und Landungen, kann es vorkommen, dass Triebwerksöle und Hydraulikflüssigkeiten in die angesaugte Luft und damit ins Flugzeuginnere gelangen. Beim Kontakt von Ölen mit heißen Triebwerksteilen werden durch einen chemischen Prozess – die Pyrolyse – giftige Substanzen freigesetzt.

Ärzte finden Schadstoffgruppe

Am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universitätsmedizin Göttingen sammeln Mediziner seit drei Jahren Erfahrungen mit Fume-Event-Patienten. Bis vor Kurzem stand in diesem Zusammenhang vor allem eine Schadstoffgruppe im Mittelpunkt: die Organophosphate. Die Mediziner stießen bei ihren Untersuchungen von Blut, Urin und Speichel jetzt auf eine weitere Gruppe schädlicher Stoffe: flüchtige organische Verbindungen (VOC). Dazu mussten sie von Symptomen auf mögliche Verursacher schließen, sagt Oberärztin Astrid Heutelbeck.

VOC führen zu Reizungen der Atemwege, neurologischen Symptomen wie zitternden Händen und zur starken Beeinträchtigung der Konzen­trationsfähigkeit. Genau lasse sich die Wirkung nicht vorhersagen, da jeder Mensch anders darauf reagiere und Betroffene bei Fume-Events unterschiedlich stark diesen Stoffen ausgesetzt seien, so Heutelbeck.

Forscher berichten von Nervengift

Untersuchungen von Wissenschaftlern der Universitäten Duke und Nebraska (USA), aber auch eines niederländischen Flugmediziners der Universität Amsterdam gaben bereits vor etwa zwei Jahren Hinweise auf die Kontamination von Kabinenluft mit dem Nervengift Trikresylphosphat (TCP). Es wird bei der Verbrennung von Öl freigesetzt und kann unter anderem zu Hirnschäden führen. Ihre Erkenntnisse machten die Forscher in einer Sendung des ARD-Magazins „Monitor“, aber auch in dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Ungefiltert eingeatmet – Die Wahrheit über das Aerotoxische Syndrom“ des Berliner Journalisten Tim van Beveren öffentlich. Die englischsprachige Originalfassung des Films, der auch entsprechende Aussagen mehrerer Toxikologen aus Kanada, Australien und Deutschland beinhaltet, feierte im Juli 2015 Premiere.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Youtube, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Aufsehen erregten auch die forensisch-pathologischen Analysen von Gewebeproben aus Gehirn, Rückenmark und Nervensystem des 2012 an einer Überdosis Beruhigungsmitteln verstorbenen britischen Piloten Richard Westgate. Westgate litt unter diversen Symptomen, die er auf vergiftete Cockpitluft zurückführte. Im Sommer 2014 legte ein internationales Forscherteam Medienberichten zufolge Ergebnisse der Untersuchung des Leichnams vor, nach denen Westgates Nervenschädigungen mit dem aerotoxischen Syndrom erklärt wurden. Ein Untersuchungsrichter schaltete daraufhin die britische Luftaufsichtsbehörde CAA ein.

Problem und Lösung lange bekannt

Fume-Events sind schon seit Jahren ein Problem, sagt Jörg Handwerg, Vorstandsmitglied der Vereinigung Cockpit und selbst Pilot eines Airbus A320: „Streng genommen ist das Phänomen seit den 50er-Jahren bekannt, als man in der Militärfliegerei erstmals Erfahrungen damit machte.“ In der zivilen Luftfahrt waren Fume-Events lange kein Thema – doch der technische Fortschritt änderte das: Moderne Düsentriebwerke entwickeln deutlich höhere Temperaturen, was möglicherweise die Entstehung von Giftstoffen begünstige. Zudem seien die Wartungsintervalle heute länger.

Handwerg: „Triebwerke werden zwar dauerhaft überwacht, aber erst, wenn es wirklich ein Problem gibt, bauen Mechaniker sie auseinander.“ Eine Lösung wäre, die Druckluft nicht aus den Triebwerken abzuzapfen, sondern woanders: „Dass das effizient geht, hat der Flugzeughersteller Boing mit seiner Boing 787 bewiesen“, sagt Handwerg. In den Flugzeugen müsste ein Filter nachgerüstet werden. Die Technologien dafür stünden bereit, die Flugzeugbauer scheuten aber das zusätzliche Gewicht und den dadurch erhöhten Spritverbrauch, vermutet Handwerg.

Branchenverband: Keine belastbaren Ergebnisse

Der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) wollte sich zu den Aussagen der Göttinger Mediziner nicht äußern. „Wir konnten bisher keinen Einblick in die Ergebnisse nehmen“, sagt eine Sprecherin. Es gebe viele Untersuchungen, Datensammlungen oder Studien. „Bisher hat aber keine Studie belastbare Erkenntnisse gebracht.“ Die Obduktionsstudie aus Großbritannien sei eine „Einzelfallbeschreibung mit hochgradig spekulativ konstruierten Zusammenhängen“. Der BDL setze auf eine von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) in Auftrag gegebene Untersuchung. Ergebnisse sollen im Oktober vorgestellt werden.