Berlin. Die Kanzlerin kämpft in der Flüchtlingskrise den Kampf ihres Lebens. Israels Premier Netanjahu bietet sich als Helfer in der Not an.

Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Dienstagnachmittag im Foyer des Kanzleramts vor die Presse tritt, lächelt er entspannt. Der Mann im dunkelblauen Anzug lobt die „liebe Angela“ und schwärmt von den „engen, stetigen und ganz einzigartigen Beziehungen“ zwischen Israel und Deutschland. Netanjahu, dessen rhetorische Beißattacken gefürchtet sind und der selbst den offenen Konflikt mit US-Präsident Barack Obama nicht scheut, wirkt an diesem Tag handzahm und pflegeleicht.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) spielt den Ball an den „lieben Ministerpräsidenten Netanjahu“ zurück. Sie preist die sechsten Regierungskonsultationen der beiden Länder seit 2008 als „Wunder der Geschichte“. Ein pathetisches Wort für das eher routinemäßige Treffen zwischen den Regierungschefs und einer Vielzahl von Ministern. Doch angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus ist Normalität eine Errungenschaft, darum geht es Merkel. Immerhin pflegen die beiden Länder seit 50 Jahren diplomatische Beziehungen.

In Merkels Miene liegen Konzentration und Anspannung

In einer gemeinsamen Erklärung vereinbaren die Regierungen am Dienstag eine bessere Zusammenarbeit bei der Forschung, Digitalisierung, Elektromobilität, Klimaschutz und bei der Bekämpfung der Internetkriminalität. Alles keine spektakulären Vorhaben.

Merkel trägt ein pinkfarbenes Jackett zu einer schwarzen Hose. Sie redet ruhig und freundlich, schaut immer wieder nach rechts zu Netanjahu. Doch in ihrem Blick liegen Konzentration und Anspannung. Es sind Tage der Entscheidung, die auch das politische Schicksal der Kanzlerin besiegeln können. Beim Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel stehen Schritte zur Eindämmung der Flüchtlingskrise sowie die Debatte über neue Grenzen in Europa auf der Agenda. Und: ein Gespenst namens „Brexit“.

Israel ist Stabilitäts-Anker in der Krisenregion Nahost

Ein ausgebuffter Polit-Profi wie Netanjahu weiß natürlich um die Nöte Merkels. Geschickt bringt er sein Land als Stabilitätsanker in einer aus den Fugen geratenen Region ins Spiel. „Israel ist die Festung der westlichen Zivilisation im Nahen Osten“, sagt er und wippt mit beiden geballten Fäusten. „Wir verteidigen unsere gemeinsamen Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte. Das ist der Hauptpunkt, den ich Ihnen vermitteln möchte.“ Ohne Israel – so Netanjahu – würden noch viele Millionen mehr Flüchtlinge nach Europa und Deutschland kommen.

„Wenn Israel nicht bestünde, dann wäre der ganze westliche Teil des Nahen Ostens vom extremen Islamismus schon überrollt worden“, erklärt der Premier. Es ist das Thema, das derzeit die europäische Politik dominiert, und Israels Premier präsentiert sich dabei als Anwalt einer Kanzlerin in Not.

Differenzen werden an diesem Tag unter den Teppich gekehrt

Natürlich gibt es auch Differenzen. Doch an diesem Tag werden sie unter den Teppich gekehrt oder zumindest entschärft. Auf die Frage eines israelischen Journalisten, ob sich Deutschland nach dem im vergangenen Juli erzielten Atom-Deal mit dem Iran den Mullahs an den Hals werfe, antwortet Merkel kühl: „Es wird keine normalen, freundschaftlichen Beziehungen zum Iran geben, solange das Existenzrecht Israels nicht anerkannt wird.“ Netanjahu steht daneben und nickt. Seit ihrer Rede in der Knesset 2008, in der sie die Sicherheit Israels als „Teil der Staatsräson Deutschlands“ erklärt hatte, hat sie in dieser Frage immer wieder eine klare Linie gezogen.

Merkel reagiert damit auf die Charme-Offensiven von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD), die in den letzten Monaten nach Teheran gereist waren. Beide bemühten sich nach dem historischen Nuklear-Abkommen um Entspannung mit dem jahrelang mit internationalen Sanktionen belegten Nahoststaat. Steinmeier hatte zuletzt den iranischen Präsidenten Hassan Rohani nach Deutschland eingeladen.

Dieser hatte auf seiner letzten Europa-Visite Frankreich und Italien, nicht aber die Bundesrepublik besucht. Merkel hat immerhin angedeutet, dass es in Zukunft direkte Kontakte auch auf ihrer Ebene mit der iranischen Regierung geben könnte. Eine offizielle Einladung gibt es aber noch nicht. Gespräche ja, aber keine vorschnelle Normalität, lautet die Devise der Kanzlerin.

Als Eisbrecher im deutsch-iranischen Verhältnis galt die Reise von Gabriel, der im Juli 2015 mit einem riesigen Begleittross an Wirtschaftsvertretern in Teheran aufschlug. In den Unternehmen machte sich daraufhin Goldgräberstimmung breit. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag träumte von einer Verdoppelung der deutschen Exporte in den Iran von derzeit rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr auf fünf Milliarden Euro bis 2018. Der Bund der Deutschen Industrie freute sich gar auf eine Vervierfachung des Handelsvolumens innerhalb von zehn Jahren.

Israel sieht die Wirtschaftskontakte mit dem Iran kritisch

Derlei Euphorie wird in Israel kritisch gesehen. „Was machen die Iraner mit den zusätzlichen Einnahmen?“, fragen besorgte Mitglieder der Regierung. Der Iran gilt in Jerusalem als die größte Gefahr für das Land. Das Risiko von iranischen Nuklearwaffen liege zwar für die kommenden zehn Jahr auf Eis, heißt es. Doch was danach komme, wisse man nicht.

Zudem unterstütze Teheran schiitische Terrorgruppen in Syrien, im Libanon oder im Jemen. Präsident Hassan Rohani und Außenminister Dschawad Sarif gäben der iranischen Politik ein pro-westliches Gesicht der innenpolitischen Öffnung. In Wirklichkeit zögen aber die Hardliner um den religiösen Führer Ali Khamanei die Fäden. Es gehe um die Schaffung einer schiitischen Achse von Iran, Irak, Syrien, Libanon bis Jemen. Der Alptraum der Israelis: Der Export der islamischen Revolution von 1979 und der Ehrgeiz des Iran, zum mächtigsten regionalpolitischen Spieler zu werden.

Iranische Raketen können die israelische Stadt Beer Sheva treffen

Insbesondere die schiitische Hisbollah im Libanon – also vor der eigenen Haustür – bereitet den Israelis Kopfzerbrechen. Die Milizen stünden nicht unter dem Kommando des legendären Scheichs Hassan Nasrallah in Beirut, sondern würden von iranischen Revolutionsgarden gesteuert, heißt es in israelischen Sicherheitskreisen. Nach deren Einschätzung verfügen die Hisbollah-Verbände mittlerweile über moderne Waffen aus dem Iran. So seien präzisionsgesteuerte S-R-450-Raketen in der Lage, vom Libanon aus die südisraelische Stadt Beer Sheva zu treffen. Im Visier haben die Israelis vor allem Qassem Soleimani, den Kommandeur der al-Quds-Einheit, einer Division der Iranischen Revolutionsgarde, die Spezialeinsätze außerhalb des Iran durchführt. Soleimani ist Militärberater der syrischen Streitkräfte und dirigiert auch die Hisbollah-Milizen in dem Bürgerkriegsland.

Die Regierung in Jerusalem hat gelernt, sich in einem feindlichen Umfeld zu arrangieren und bei der Auswahl von Kooperationspartnern nicht wählerisch zu sein. Netanjahu kann mit Russlands Präsident Wladimir Putin umgehen, den er als eine Art geopolitischen Machiavellisten ansieht. Er ist in der Lage, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wieder die abgebrochenen Drähte zu aktivieren und gleichzeitig das gute Verhältnis mit den Kurden auszubauen. Der Höhepunkt auf dem diplomatischen Drahtseilakt ist Netanjahus Annäherung an die arabischen Golfstaaten, die eines mit Israel gemeinsam haben: die Sorge vor einer aggressiven Außenpolitik des Iran.

Merkel mahnt vorsichtig eine Zwei-Staaten-Lösung an

Merkel spricht den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern an. Sie redet vom „Prozess des friedlichen Zusammenlebens“ und dem Ziel einer Zweistaatenlösung. Doch an diesem Nachmittag ist dies eher eine Pflichtaufgabe, kein Nadelstich. Im Dezember 2012 hatte sie noch deutliche Kritik am Siedlungsausbau der Regierung Netanjahu geübt: „Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind.“

Von derlei Spitzen ist an diesem Nachmittag nichts zu spüren. Merkel verliert zum deutsch-israelischen Verhältnis nüchterne Worte: „Man muss vor allen Dingen immer auch im Gespräch bleiben, selbst wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt. Deutschland wird das auch in Zukunft tun.“ Es klingt kühler, als es die Kanzlerin gemeint hat.

Die Kanzlerin blickt derzeit nach Ankara, nicht nach Jerusalem

Am Ende kehrt sie zu dem Thema zurück, das ihr derzeit vor allem am Herzen liegt: die Eindämmung der Flüchtlingskrise. Mit Blick auf den bevorstehenden EU-Gipfel sagt sie: „Es geht jetzt nicht darum, Flüchtlingskontingente über Europa zu verteilen.“ An vorderster Stelle stehe die Herausforderung, die EU-Außengrenzen zu schützen und eine Einigung mit der Türkei zu erzielen. Die Kanzlerin blickt in diesen Tagen nach Ankara, Jerusalem ist da eher ein Nebenschauplatz.