Ayvalik/Lesbos. Von der Türkei flohen Tausende Flüchtlinge nach Griechenland. Es ist ein Millionengeschäft entstanden – jetzt patrouilliert die Nato.

Jeden Morgen fahren die Fischer der türkischen Küstenstadt Ayvalik auf das Meer. Das Knattern der Motoren hallt über die Wellen der Ägäis. Sie werfen ihre Netze aus, fangen Barsche oder Tintenfische. Einmal, so erzählt eine Bewohnerin am Hafen, soll sich im Netz eines Fischers eine Leiche verfangen haben. Der Mensch war auf der Flucht ertrunken. Wie etliche andere Geflohene auch, im Mittelmeer zwischen der Türkei und Griechenland, zwischen Ayvalik und der griechischen Insel Lesbos. Immer wieder treiben tote Körper an den Strand, liegen zwischen Algen, Arme und Beine starr. Erst letzte Woche sank ein Schlepperboot mit 35 Menschen einige Kilometer nördlich von Ayvalik.

Nächste Woche beginnen Nato-Schiffe ihren Kampf gegen Schlepper in der Ägäis. Sie wollen Tote verhindern – sie wollen aber auch Flüchtlinge zurückschicken in die Türkei. Kann das gelingen?

Im Alltag der türkischen Küstenstadt scheint das Sterben an der Küste keine Rolle zu spielen. In Gassen verkaufen Händler Taschen, Gürtel oder Shishas. In den Cafés nippen Männer an ihrem Tee, Frauen unterhalten sich auf der Straße, es riecht nach Gegrilltem. Nirgendwo sieht man afghanische Familien, nirgendwo junge Syrer mit Taschen auf dem Rücken. Die Hotels sind leer, an den Stränden streunen Hunde. Nur ein Taxifahrer sagt, dass die Polizei manchmal kontrolliere, ob Syrer bei ihm mitfahren. Passiert sei das nie. In Ayvalik sieht man nur Schmauchspuren des großen Sterbens.

Das Geschäft der Schleuser boomt

Eine Deutsche, die vor einigen Jahren in die Türkei gezogen ist und nun in Ayvalik lebt, sagt, dass sie die Flüchtlingskrise vor allem aus dem Fernsehen kenne. Schon 403 tote oder vermisste Menschen hat das UNHCR 2016 im Mittelmeer gezählt. „Grausam“ sei das, sagt die Frau. „Man fühlt sich schlecht, wenn man am Strand entlangspaziert.“

Wer am Strand steht und auf das Meer schaut, sieht die Berge von Lesbos, Europas Außenposten. Seit Monaten herrscht dort der Ausnahmezustand. Mittlerweile ist etwas mehr Ordnung zurück auf der Insel. Und doch kamen allein seit Jahresbeginn rund 45.000 Flüchtlinge aus der Türkei an. Gut 15 Kilometer Meer trennen Ayvalik und Lesbos. Es sind zwei Orte einer Tragödie – doch trennen sie Welten.

Dazwischen boomt das Geschäft der Schleuser. Die billigen Schlauchboote legen meist in der Nacht von den Stränden um Ayvalik ab, sodass sie Lesbos im Morgengrauen erreichen. Helfer in Griechenland erzählen, dass Kinder häufig mit Schrammen und Kratzern im Gesicht aus den Schlauchbooten steigen. „Die Menschen verstecken sich im Gebüsch, dann rennen sie los auf die Boote“, sagt eine junge Helferin aus Spanien. Die Menschen zahlen für die paar Kilometer von Ayvalik bis Lesbos zwischen 800 und 1000 Euro pro Person. Schlepper in der Türkei preisen Fahrten nach Griechenland in geschlossenen Netzwerken bei Facebook an. Kontaktmänner geben türkische Telefonnummern an. Es ist wie eine Dienstleistung, nur illegal.

Für die Menschen gibt es keinen legalen Weg nach Europa

„Das ist wie eine Mafia“, sagt der Iraker Abdullah. Nur gebe es eben für ihn und seine Familie keinen anderen Weg nach Europa. Keinen legalen Weg. Abdullahs Ziel ist Deutschland, doch für einen Asylantrag in der EU müssen Kriegsflüchtlinge wie er es erst nach Griechenland schaffen – und vorher über das Meer. Das ist gut für das Schleusergeschäft in der Türkei. Und lebensgefährlich für die Menschen.

Auf dem Meer vor Ayvalik patrouilliert die Küstenwache. Auf der einen Seite türkische, auf der anderen Seite griechische Polizeiboote. Sie kommunizieren kaum miteinander. Die EU hätte gern, dass die Türkei die vielen Flüchtlinge bei sich behält. Doch wenn das Wetter gut ist und die See ruhig, legen auch im Winter zwischen zehn und 25 Schlauchboote an der Küste um Ayvalik ab. Die griechische Polizei fängt die meisten nun ab, sobald sie türkische Gewässer verlassen haben und bringt die Menschen nach Lesbos.

Nun sollen Kriegsschiffe der Nato das Seegebiet zwischen der Türkei und Griechenland überwachen und helfen, das Geschäft der Schleusergruppen zu stoppen – und auch die Flüchtlinge. Entdecken die Nato-Boote in Seenot geratene Menschen, bringen sie diese in die Türkei zurück. Sie wollen Menschen retten. Andere warnen: Die Ägäis werde zum gut bewachten Massengrab.

Unterkommen in Istanbul – aus Angst vor Polizei

Und es könnten auch dieses Jahr viele über das Meer fliehen. Zwei Millionen Flüchtlinge allein aus Syrien waren laut UNHCR bis Ende 2015 in der Türkei registriert. Nur gut zehn Prozent werden in Lagern versorgt. Der Rest ist auf sich allein gestellt. Der Staat zahlt ihnen Behandlung in Krankenhäusern und Schulunterricht auf Arabisch. Sie schlagen sich mit Jobs durch, verdienen schwarz schlechtes Geld. Erst seit Mitte Januar dürfen sie arbeiten – vorausgesetzt, sie leben länger als sechs Monate in der Türkei. Trotzdem wollen viele so schnell wie möglich weiter – Richtung EU.

Flüchtlinge berichten, dass sie schon in Istanbul oder Izmir Kontakt zu Schleusern aufgenommen hatten. Kommt das Geschäft zustande, warten die Menschen im Winter oftmals Tage auf gutes Wetter. Aus Angst vor der Polizei kommen sie nicht in kleinen Küstenstädten wie Ayvalik unter, sondern in Hotels oder bei Bekannten oder in Moscheen in den Metropolen. Manche halten die Nächte draußen aus.

Die alten Boote liegen wie tote Wale am Strand

An der Küste läuft alles ganz schnell. In Kleintransportern fahren die Schleuser sie an den Strand, oder sie machen einen Treffpunkt aus – einen Turm oder ein Hotel. Für Geflohene kommt die böse Überraschung oft am Strand. Statt 20 Menschen sind 40 oder 50 an Bord. Flüchtlinge erzählten auf Lesbos, sie seien mit Gewalt an Deck gezwungen worden, als Panik ausbrach. Legt das Boot mit den Geflohenen ab, ziehen sich Schleuser schnell zurück. Nur selten, sagt die griechische Polizei, erwischen sie einen an Bord. Und wenn, seien es Afghanen oder Syrer selbst, die für Schleuser arbeiten.

Am anderen Ufer liegen die zusammengefallenen Schlauchboote wie tote Wale am Strand von Lesbos. Zwischen Sand, Steinen und Bäumen blitzt das Orange der alten Schwimmwesten auf. Helfer haben Zelte aufgebaut, verteilen Tee und warme Kleidung. Ein Team der Organisation Proactiva fährt an diesem Morgen in einem Rettungsboot die Küste entlang. Der junge Spanier Joaquin sitzt am Steuer, die Gischt spritzt in die Gesichter der Helfer. Sobald sie Boote mit Flüchtlingen entdecken, eskortieren sie die Menschen zum Strand von Lesbos. Auch ein Taucher ist an diesem Morgen mit an Bord. Doch es bleibt ruhig. Sie See ist zu rau, der Wind zu stark. Kein Schlepperboot legt ab.

Angeblich sind neue Kleider und Essen im Schlepperlohn enthalten

Rahim aus Syrien sitzt in einem Zelt in einem der Camps auf Lesbos und wartet auf die Registrierung. Gestern ist er mit einem Boot angekommen. Er erzählt, dass die türkische Küstenwache sie gesehen, aber beigedreht habe. Andere berichten davon, dass die Polizeischiffe mit Tempo an den Booten vorbeifahren würden – Bugwellen als lebensgefährliche Warnung. Wieder andere Berichte und Videos im Internet zeigen, wie die Küstenwache Menschen aus dem Wasser rettet.

Ein griechischer Polizist erklärt, dass die Schleuser den Menschen vor der Abfahrt erzählen würden, dass sie auf keinen Fall stoppen sollten, sobald sich die Küstenwache nähere. Und so erschwert das Geschäft der Schleuser auch die Rettung der Menschen auf hoher See. Und die Hilfe an Land. Ein freiwilliger Helfer auf Lesbos erzählt, dass ein Iraker sich mal bei ihm über die Qualität der trockenen Kleidung im Notquartier beschwert habe. Er habe schließlich dafür bezahlt. Der Schleuser in der Türkei hatte dem Mann aus dem Irak gesagt, dass im Preis der Überfahrt auch neue Kleidung und Essen in Lesbos enthalten seien. Dass die Kleidung von Freiwilligen gespendet wurde, hat der Schlepper nicht erzählt.