Peking. Kim Jong-un verbreitet weltweit Angst und Schrecken. Doch der Diktator ist nicht irre. Er ist getrieben von Angst und Verzweiflung.

Es bringt seine ganz eigenen Mühen mit sich, Führer von Nordkorea zu sein. Kim Jong-un muss stundenlange Militärparaden über sich ergehen lassen. Er darf nicht den Überblick verlieren über Hunderte von Parteisitzungen im Jahr. Und wenn er nicht gerade seinen Feinden im benachbarten Ausland mit tosender Stimme einen Vergeltungsschlag androht, sorgt er intern für Angst und Schrecken.

Und doch ist im nordkoreanischen Fernsehen häufig ein gelangweilter Kim Jong-un zu sehen, der den Eindruck hinterlässt, er würde sich lieber in Disneyland vergnügen, als mit 70-jährigen Generälen und Parteisekretären die Lage des Arbeiterstaates zu erörtern. Zumindest den Wunsch nach einem Besuch im Disneyland hatte er sich kurz nach seinem Amtsantritt Anfang 2012 erfüllen lassen. Auf einer extra ihm gewidmeten Fernsehgala ließ er Micky Maus und Winnie the Poo das Tanzbein schwingen – obwohl der Disney-Konzern Nordkorea nie die Genehmigung für die Verwendung seiner Zeichentrickfiguren erteilt hatte.

70 Regierungsvertreter hingerichtet?

Mit seinen gerade einmal 33 Jahren (geschätzt) wirkt der pausbäckige Diktator bei öffentlichen Auftritten unerfahren und zuweilen auch unbeholfen. Trotzdem ist es ihm seit Beginn seiner Amtsübernahme vor vier Jahren gelungen, nicht nur das eigene Land, sondern die ganze Welt gleich mehrfach in Atem zu halten. Zwei unterirdische Atomtests hat das Regime unter seiner Führung abgehalten und drei Langstreckenraketen abgeschossen, von denen es zwei tatsächlich ins All schafften, eine erst am vorvergangenen Sonntag. Doch auch führungsintern sorgt er für Schrecken und steht seinem Vater und Großvater in nichts nach. Erst jüngst ließ der junge Kim seinen Militärchef Ri Yong-gil hinrichten. Dabei hatte Kim ihn erst 2013 zu sich in die Führung geholt. Und Ri ist nicht der Einzige.

Blick nach oben: Kim Jong-un verfolgt die Bahn einer Langstreckenrakete – und die Verantwortlichen dürften inständig hoffen, dass alles planmäßig verläuft.
Blick nach oben: Kim Jong-un verfolgt die Bahn einer Langstreckenrakete – und die Verantwortlichen dürften inständig hoffen, dass alles planmäßig verläuft. © REUTERS | KYODO

Südkoreanischen Geheimdiensten zufolge hat Kim seit seiner Machtübernahme mindestens 70 Regierungsvertreter exekutiert, unter anderem seinen einst mächtigen Onkel Jang Song-thaek und Armeeminister Hyon Yong-chol. Thaek soll am lebendigen Leib von Hunden zerfleischt, Chol von einer Abwehrrakete getroffen worden sein. Von den sieben Personen, die 2011 den Sarg seines Vaters und Amtsvorgängers Kim Jong-il zu Grabe trugen, hat der junge Kim alle töten lassen.

Bei all seiner Brutalität nach innen und dem atomaren Muskelzucken nach außen stellt sich die Frage: Was treibt diesen Diktator? Ist er irre? Nein. Er handelt aus Angst und Verzweiflung.

Gefahr droht im Inneren

Jedes Jahr, wenn in den Sommermonaten US-amerikanische Marines mit südkoreanischen Truppen im Grenzgebiet zu Nordkorea den militärischen Ernstfall proben, schrillen in Pjöngjang die Alarmglocken. Denn so sehr das Regime an der nuklearen Bewaffnung bastelt – der Diktator weiß sehr wohl, dass seine Volksbefreiungsarmee bei einem Gefecht gegen Südkorea und die USA mit konventionellen Waffen den Kürzeren ziehen würde. Die wahrscheinlich sehr viel größere Gefahr droht ihm aber aus den eigenen Reihen.

Als der junge Kim im August 2014 für einige Wochen plötzlich von der Bildfläche verschwand, heizte das im In- und Ausland die Gerüchteküche an. Zeitungsberichte, Kim habe aufgrund seines Übergewichts Diabetes, gehörten noch zu den harmloseren Mutmaßungen. In einer britischen Zeitung hieß es, der Diktator habe eine Leidenschaft für Käse entwickelt. Er könnte nun zu viel davon konsumiert haben. Eine chinesische Zeitung schrieb: Kim habe zu viel frittiertes Huhn gegessen. Politisch sehr viel brisanter waren Gerüchte, Generäle oder andere führende Kräfte der Arbeiterpartei hätten Kim entmachtet und unter Hausarrest gestellt.

Als er wieder auftauchte, stützte er sich auf einen Krückstock. Umringt war er von zahlreichen Generälen und Parteisekretären. Aus den Berichten der nordkoreanischen Staatsmedien ging weder hervor, weswegen er sich so lange nicht blicken ließ, noch wie alt diese Aufnahmen waren. Die Botschaft war aber eindeutig: Sie sollten ihn im innersten Kreis der Macht zeigen.

Existenz wurde erst 2003 bekannt

Über Kim Jong-uns Kindheit ist wenig bekannt. Obwohl er der Enkel von Staatsgründer Kim Il-sung ist, der in Nordkorea wie ein Heiliger verehrt wird, und Sohn des zweiten Machthabers Kim Jong-il, kennt die Öffentlichkeit nicht einmal das genaue Geburtsdatum. Erstmals Erwähnung fand der junge Kim überhaupt erst 2003, als der einstige Koch der Herrscherfamilie, der nach Japan geflohene Kenji Fujimoto, auspackte und der Welt mitteilte, dass es einen dritten Sohn von Kim Jong-il gebe. Fujimoto nannte auch das Geburtstdatum von Kim Jong-un: der 8. Januar 1983. Das wurde offiziell jedoch nie bestätigt.

Einen Teil seiner Schulzeit soll Kim Ende der neunziger Jahre in einem Internat in der Schweiz verbracht haben. Erst nach dem Tod seines Vaters im Dezember 2011 gaben die nordkoreanischen Staatsmedien bekannt, der junge Kim habe bereits wenige Monate zuvor das Oberkommando über die Koreanische Volksarmee übertragen bekommen. Er sei damit prädestiniert als „großartiger Nachfolger und Führer von Partei, Armee und Volk“. Am 29. Dezember 2011 wurde er dann zum Staatsoberhaupt gekürt.

Wirtschaftlich öffnet sich das Land vorsichtig

So brutal und verbohrt er seitdem auf die Außenwelt wirkt – wirtschaftspolitisch setzt der junge Kim auf Reformen. So hat er Nordkorea für den ausländischen Tourismus geöffnet, Bauern müssen ihre Ernte nicht komplett dem Staat überlassen, sondern dürfen einen Teil selbst verkaufen. Und zumindest in der Hauptstadt Pjöngjang hat ein – bescheidener – Wohlstand eingesetzt. Augenzeugen berichten von mehr Autos und von Menschen mit Smartphones. Inzwischen droht auch keine Hungerskatastrophe mehr.

Rigoros geht Kim nach wie vor gegen potenzielle Widersacher vor. „Kim hat den Willen, alles zur Seite zu räumen, was ihm im Weg steht“, ist der japanische Nordkorea-Experte Narushige Michishita überzeugt. Kim treffe grundsätzlich rationale Entscheidungen. „Er kennt die materiellen Grenzen seines Landes, arbeitet mit dem, was er hat, und organisiert seinen Machterhalt.“ In einem System wie in Nordkorea gehörten dazu auch Exekutionen.