Berlin. Drei Jahre nach der Spätzleaffäre: Thierse umwirbt die Schwaben – und macht mit Schrippen und Weckle Wahlkampf für die Südwest-SPD.

Drei Jahre nach seiner berühmt gewordenen Schwaben-Schelte überrascht Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) mit einer neuen Botschaft an die in Berlin lebenden Baden-Württemberger: Er wirbt um die Unterstützung von Schwaben und Badenern – für die dramatisch schwächelnde SPD bei der Landtagswahl im Südwesten am 13. März. Dafür findet Thierse auch freundliche Worte für das Ländle.

Gemeinsam mit dem baden-württembergischen SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid machte Thierse am Samstag Wahlkampf in Prenzlauer Berg. Am Kollwitzplatz enthüllten die beiden SPD-Politiker ein Großplakat, auf dem die nach Berlin gezogenen Südwestler umworben werden. „Schwaben: Zu Hause vermissen wir eure Stimme“, heißt es neben einem Konterfei von Schmid. Bei einer Veranstaltung in der Kulturbrauerei erläuterten die SPD-Politiker, der Aufruf ziele nicht nur auf Briefwähler aus Berlin mit Erstwohnsitz in Baden-Württemberg – von denen gebe es wohl gar nicht so viele in der Hauptstadt, räumt Schmid ein. Nein, die hier heimischen Exil-Schwaben – deren Zahl auf mehrere Hunderttausend geschätzt wird – sollten auch bei Freunden und Bekannten im Ländle für die SPD werben.

PR-Agentur für Unterstützung verantwortlich

Dass ausgerechnet Thierse dem SPD-Spitzenkandidaten zur Seite springt, fernab vom eigentlichen Landtagswahlkampf, ist der Einfall einer Werbeagentur, die die SPD-Kampagne betreut. Die PR-Leute hoffen, die Sache werde als Wahlkampf mit Ironie verstanden und mediale Aufmerksamkeit bringen. Schmids SPD, die in Stuttgart als Juniorpartner mit den Grünen regiert, ist in Umfragen auf 15 Prozent abgestürzt; es ist schon nicht mehr ausgeschlossen, dass die SPD am Ende hinter der AfD landet.

Da ist jede Hilfe willkommen – selbst die von Thierse, der in Baden-Württemberg durch Lästereien über integrationsunwillige Schwaben in Berlin bekannt geworden ist. In einem Interview mit unserer Redaktion hatte er vor drei Jahren über Strapazen beim alltäglichen Zusammenleben mit den aus dem Südwesten Zugezogenen in Prenzlauer Berg geklagt: „Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken“, wetterte Thierse, der seit 40 Jahren am Kollwitzplatz wohnt.

Pflaumenkuchen ist Pflaumenkuchen

In Berlin heiße es Schrippen, „daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen.“ Genau das gleiche gelte für Pflaumendatschi, der in Berlin nun mal Pflaumenkuchen heiße. „Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind. Und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche.“ Die Schwaben kämen her, weil alles so bunt und quirlig sei, aber später wollten sie es doch wieder so haben wie zu Hause.

Mit seiner Tirade hatte Thierse bundesweit Proteste ausgelöst – Baden-Württemberg war man so empört, dass der SPD-Politiker wegen der „Spätzleaffäre“ als Festredner bei einer Gedenkveranstaltung wieder ausgeladen wurde.

Dass er damals kurz vor dem Ende seiner politischen Karriere so viel Prügel bezogen hat, wurmt den 72-Jährigen noch immer. Zu „Weckle und Schrippen“ luden Thierse und Schmid am Sonnabendvormittag in die Kulturbrauerei ein, sie wollten unter dem Slogan „Noch ein Schwabe in Berlin“ über die Landtagswahl reden. Unter den knapp hundert Gästen dominierten SPD-Mitglieder, viele mit Wurzeln in Baden-Württemberg – doch gleich zu Beginn ging es dann doch um Thierse und die Schwaben.

Der SPD-Politiker will etwas klarstellen: Seine wenigen Interview-Sätze zu diesem Thema seien heiter-ironisch gemeint gewesen. Das große mediale Echo habe ihn überrascht – dass dies in 24 Jahren Politik seine „erfolgreichsten Äußerungen“ gewesen seien, das könne schon „Anfälle von Trübsinn“ auslösen. Ähnlich hatte sich Thierse schon vor drei Jahren verteidigt, gewirkt hat es nicht. Tätige Reue habe er aber doch auch durch die Annahme der „Goldenen Narrenschelle“ der Schwäbisch-Alemannischen Narrenzünfte vor zwei Jahren gezeigt, erklärte Thierse. Schmid berichtete indes, in seiner Heimat sage fast kaum noch jemand Weckle, sondern Brötchen.

Thierse: Erfolg der AfD wäre gespenstisches Signal

Ernsthafter sprach Thierse dann über die Veränderungen in Wohnvierteln durch Zugezogene – in Prenzlauer Berg werde dieser Trend eben durch Schwaben personifiziert. Freundlich lobte der SPD-Politiker das Ländle: Als er das erste Mal in Baden-Württemberg gewesen sei, habe er gedacht: „Was für ein reiches Land. Es sah aus, als ob man den Gehsteig ablecken kann.“ Umso größer ist Thierses Befürchtung, ausgerechnet in Baden-Württemberg könne die AfD in den Landtag einziehen. Ein solcher Erfolg der „Rechtsextremisten wäre ein „gespenstisches Signal für ganz Deutschland“ – und auch nicht hilfreich für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin im September.

Eindringlich mahnte Thierse, der 2013 aus dem Bundestag ausgeschieden ist, die Sorgen der Bürger in der Flüchtlingskrise ernst zu nehmen. Man müsse erklären, dass das Land pluralistischer werde. Integration sei eine doppelte Aufgabe – die Zuwanderer sollten sich aufgenommen fühlen, sagte er.

„Und den Einheimischen soll das eigene Land nicht fremd werden.“ Er meinte Deutschland, aber er hätte genauso von seinem geliebten Kollwitzplatz und den Schrippen-Bäckern reden können. „Kulturelles und soziales Selbstbewusstsein“ empfahl Thierse und meinte doch auch: „Die Integration wird ein langer Prozess“.