Berlin. Laut dem Risikosoziologen Ortwin Renn wird das Risiko von sexuellen Übergriffen durch Flüchtlinge in Deutschland stark überschätzt.

Die Gefahr, Opfer sexueller Attacken von Flüchtlingen zu werden, wird aus Sicht des Risikosoziologen Ortwin Renn stark überschätzt. „Das Risiko, selbst Opfer eines solchen Übergriffs zu werden, ist in Deutschland nach wie vor sehr gering“, sagte der Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung der Universität Stuttgart dem Evangelischen Pressedienst (epd). Nach den Vorfällen an Silvester in Köln gebe es jedoch viel mehr Aufmerksamkeit. Generell würden nun viel mehr Fälle öffentlich.

Rein statistisch sei die Zahl der Anzeigen wegen sexueller Belästigung im öffentlichen Raum zwar binnen eines Jahres um 3,5 Prozent gestiegen – von 12.480 im Jahr 2014 auf 12.928 im vergangenen Jahr. „Das muss aber nicht bedeuten, dass es real mehr Übergriffe gab“, betonte Renn. „Es kann auch sein, dass Taten häufiger angezeigt werden, weil sie weniger tabuisiert sind.“

Kölner Übergriffe verändern Wahrnehmung

Nach den Kölner Übergriffen an Silvester habe sich die öffentliche Wahrnehmung des Risikos stark verschoben, von Migranten sexuell bedrängt zu werden. „Dass Einwanderer für ein herausstechendes Ereignis sexueller Gewalt verantwortlich sind, dient als Ventil, alle Ängste vor Zuwanderung herauszulassen“, sagte Renn. Die Vorfälle seien zu einem Symbol geworden, das stark emotionalisiere, betonte der Forscher. „Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung tatsächlicher Gefahr.“

„Man kennt jetzt die Spitze und erwartet, dass der untere Teil viel größer ist, als es der Realität entspricht“: Der Stuttgarter Soziologe Ortwin Renn schätzt das Risiko sexueller Übergriffe durch Flüchtlinge als sehr gering ein.
„Man kennt jetzt die Spitze und erwartet, dass der untere Teil viel größer ist, als es der Realität entspricht“: Der Stuttgarter Soziologe Ortwin Renn schätzt das Risiko sexueller Übergriffe durch Flüchtlinge als sehr gering ein. © imago stock&people | imago stock&people

Hinzu komme durch die zögerlichen offiziellen Informationen seitens der Behörden das Gefühl, dass der Staat und auch Medien Fakten verschweigen: „Ein Nährboden für Verschwörungstheorien und eine Steilvorlage für die, die immer gegen Zuwanderung waren.“ Bei der Risikowahrnehmung greife zudem der „Eisbergeffekt“: „Man kennt jetzt die Spitze und erwartet, dass der untere Teil viel größer ist, als es der Realität entspricht.“

Trotz dieser Analyse sieht Renn jedoch auch Gefährdungen durch einige Flüchtlinge. „Junge entwurzelte Männer aus Kulturkreisen mit strenger Ehr- und Sexualmoral sind ein Risiko, was sexuelle Gewalt angeht“, sagte er. Für den überwiegenden Teil der Neuzuwanderer gelte das aber nicht. Aktionismus sei daher genauso verfehlt wie das Totschweigen von Problemen. (epd)