Berlin. Es ist die „Orbanisierung“ Europas mit Zäunen und Grenzkontrollen: Der ungarische Ministerpräsident ist der Vorreiter der Abschottung.

Miguel Sanches

Von Lettland aus betrachtet ist die Flüchtlingskrise sonderbar. Statt die Grenzen zu verstärken, betreibe man die Verteilung von Migranten, wunderte sich zuletzt die lettische Regierungschefin Laimdota Straujuma. Für sie ist es das Ergebnis verfehlter EU-Politik. Immer mehr Staaten kommen zu einer ähnlichen Analyse und forcieren Kontrollen. Ein Staat reißt den anderen mit, von einem „Dominoeffekt“ ist die Rede. Europa macht dicht: Ein aktueller Überblick über die Sicherung der Grenzen.

Griechenland: Am Montag kamen in Piräus an Bord von drei Fähren 1481 Flüchtlinge von den Inseln Lesbos und Chios an. Griechenland ist Teil der EU-Außengrenze, Einfallstor nach Europa und deswegen unter Beschuss. „Was wollen Sie, dass wir tun?“, fragt irritiert Migrationsminister Ioannis Mouzalas. Die Seegrenze zur Türkei könne nicht abgedichtet werden. Auf hoher See bestehe die Pflicht, Schiffbrüchigen zu helfen. Die EU verfolgt eine Doppelstrategie. Auf die Türkei hat sie nur bedingt Einfluss. Mit Finanzhilfe soll sie zu mehr Zusammenarbeit bewegt werden. Gegenüber den Griechen hat Rest-Europa ein Druckmittel: Den Ausschluss aus dem Schengenraum. Die übrigen 25 Schengenstaaten könnten die Reisefreiheit bewahren. Griechenland ist eine Sollbruchstelle. Dabei haben die Griechen immerhin wenigstens den Landweg abgedichtet. Bereits Ende 2012 haben sie einen zehn Kilometer langen Zaun an der Grenze zur Türkei gezogen. Der größte Abschnitt, mehr als 190 Kilometer, verläuft entlang eines Flusses, der verstärkt patrouilliert wird.

Bulgarien: 275 Kilometer lang ist die Grenze zur Türkei. Die Bulgaren stellen einen Zaun auf. An den kritischen Abschnitten steht er längst. Im Laufe des Jahres soll er 161 Kilometer lang sein.

Rumänien: Der kürzeste Weg nach Westeuropa führt über Serbien und Kroatien. Rumänien wäre ein Umweg. Es braucht bisher keinen Zaun, könnte aber für Schleuser als Ausweichrote interessant werden, argwöhnt ein rumänischer Nachbar: Ungarn.

Ungarn: Dass die Rumänen unter verschärfter Beobachtung stehen, ist keine leere Drohung. Sperranlagen haben die Ungarn bereits an den Nahtstellen zu Serbien und Kroatien errichtet. Der konservative Regierungschef Viktor Orbán, gern gesehener Gast bei der CSU, gilt als der Rüpel in der Grenzdebatte. Auf einem EU-Gipfel im Oktober reizte er Kanzlerin Angela Merkel mit einer Prophezeiung: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland einen Zaun baut, dann habe ich das Europa, das ich für richtig halte.“ Merkel: „Ich habe zu lange hinter einem Zaun gelebt, als dass ich mir das noch einmal zurückwünsche.“

Mazedonien: In Gevgelija kontrolliert Mazedonien den Zustrom aus Griechenland. Hier reisen die Menschen in Zügen weiter, passieren Serbien, Kroatien und Slowenien, die sich allesamt als Transitländer betrachten. Sie reagierten umgehend darauf, dass Deutschland verschärft kontrolliert und Österreich eine Obergrenze plant. Im Moment lassen sie nur Flüchtlinge durchreisen, die registriert sind, und erklären, dass sie in Deutschland und Österreich Asyl beantragen wollen. Syrer kommen durch, Armutsflüchtlinge bleiben immer öfter in Gevgelija hängen. Am Freitag wurde die Grenze zeitweise komplett dicht gemacht. Das hatte zwei Folgen: Erstens wurde Griechenland zum Auffanglager für hoffnungslose Fälle. Zweitens traf von Sonntag bis Montagvormittag in Kroatien und Slowenien kein einziger Transitreisender ein. Zum Vergleich: Im Januar waren es vorher 48.000 Menschen gewesen. Alle Balkanstaaten werben dafür, Mazedonien beim Grenzschutz zu unterstützen. Sie bauen für den Fall vor, dass die Griechen aus dem Schengenraum ausgeschlossen werden. Mazedonien soll zum Bollwerk werden.

Italien: Seit Jahren versuchen vor allem Nordafrikaner über das Mittelmeer nach Italien zu kommen. Die Italiener waren ein Frühindikator der Krise. Sie haben Schiffbrüchige gerettet und könnten wieder in den Fokus geraten, sollte die Balkan-Route geschlossen werden. Eine Ausweichroute führt über die Adria und das Ionische Meer nach Italien.

Österreich: Bei 37.500 Anträgen heißt es künftig: Stopp. Die Österreicher können, wie Schweden, Asylanträge annehmen, aber jahrelang nicht bearbeiten. Oder die Antragsteller in sichere Nachbarstaaten zurückweisen.

Schweden und Dänemark: Wer mit Auto, Fähre oder Bahn einreist, muss sich ausweisen. Für die Dänen gelten in der europäischen Asylpolitik Sonderregeln. Infolge des Flüchtlingsstroms führten sie wieder Grenzkontrollen ein.

Norwegen, Großbritannien, Irland: Briten und Iren gehören nicht zum Schengenraum und schotten sich ab. Die Briten bewachen den Tunnel unterm Ärmelkanal bereits auf französischem Boden. Norwegen gehört nicht zur EU, pflegte aber eine Politik der offenen Grenzen. Die Norweger stellten die liberale Praxis im November 2015 ein.

Spanien: Bis zu sechs Meter hoch sind die Zäune, die Ceuta und Melilla absichern, zwei spanischen Exklaven an der Küste Nordafrikas. Gleichzeitig hilft Spanien mehreren afrikanischen Staaten beim Schutz ihrer Küsten, um eine Flucht auf die kanarischen Inseln zu erschweren.

Frankreich und Benelux: Die Grenzen sind offen, aber die Beneluxstaaten erwägen Kontrollen. Als der Strom der Mittelmeerflüchtlinge anwuchs, schloss Frankreich einen Grenzübergang.

Deutschland: Innenminister Thomas de Maizière (CDU) ordnete am 13. September 2015 Kontrollen an der Grenze nach Österreich an. Nach einem internen Bericht wurden von Freitag bis Sonntag in München 3331 Neuankömmlinge, in Passau 2060, in Rosenheim 1713 gezählt. Für den Montag erwarteten die österreichischen Behörden 1500 Menschen, Slowenien rechnet im Laufe der Woche mit täglich bis zu 2000 Migranten. Beinahe lakonisch zieht die Bundespolizei die Bilanz, die Merkel ungern lesen wird: „Spürbare Auswirkungen des europäisch-türkischen Aktionsplans sind weiterhin nicht erkennbar.“