Berlin. Angela Merkel geht volles Risiko ein. Die Kanzlerin kämpft alternativlos für ihre Flüchtlingspolitik. Das Porträt einer Unbeirrbaren.

Es ist Zeit, Haltung zu zeigen. Widerspruch spornt Angela Merkel nur noch mehr an. Gerade hat die Kanzlerin alle eines Besseren belehrt, die auf eine baldige Korrektur ihrer Flüchtlingspolitik pochen. Zwar sagte sie in ihrem Wahlkreis in Greifswald am Freitagabend, „ich verspreche Ihnen, weil ich weiß, dass es vielen Tag und Nacht durch den Kopf rumgeht, dass wir alles daran setzen, die Zahlen für dieses Jahr spürbar zu reduzieren.“ Aber sie ist sie weiterhin „zutiefst davon überzeugt“, die Fluchtursachen bekämpfen zu müssen und dass einzelne Lösungen – jeder EU-Staat für sich – „uns nicht weiterhelfen“.

Sie wird den Kurs halten, den sie zwar nicht alternativlos nennt, aber genau so vertritt. In der Rückschau werden Historiker über die Kanzlerin schreiben, dass sie unglaublich mutig gewesen sei. Oder grandios gescheitert.

Letzteres hat CSU-Chef Horst Seehofer schon am 4./5. September 2015 befürchtet, dem Schlüsseldatum der Grenzöffnung, und im kleinen Kreis verraten, was ihn beunruhigt: „Die Kanzlerin hat sich meiner Überzeugung nach für eine Vision eines anderen Deutschland entschieden.“ Einen Monat später zitierte der bayerische Ministerpräsident in einer Regierungserklärung aus einem Brief Charlotte Knoblochs, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde München: „Unser Land darf sich nicht verändern.“ CSU und Teile der CDU wollen, dass Deutschland bleibt, wie es ist. Merkel hält das für Wunschdenken. Der Zustrom wird Jahre anhalten und nur gemeinsam beherrschbar sein – oder gar nicht.

Am meisten schmerzt es Merkel, dass Europa sie hängen lässt

Merkel hat in ihrer Karriere vielen Drucksituationen standgehalten. Aus dieser Erfahrung schöpfe sie Kraft, heißt es in ihrem Umfeld. Im Vergleich zu 2002, als sie von den eigenen Leuten als Kanzlerkandidatin verhindert, „hinter die Fichte geführt“ wurde, wie sie es wohl nennen würde, führt die CSU heute einen Kampf mit Ansage und offenem Visier. Die Partei ist aufrichtig entrüstet, quer durch alle Ränge, unbeschadet von Amt und Würde oder Alter.

Man sei nicht „sauer“, erzählte der bayerische Junge-Union-Chef Hans Reichhart neulich, „das ist eher eine Ratlosigkeit, weil wir nicht mehr wissen, was sie treibt, was die Beweggründe sind und warum sie sich so verhält, wie sie sich verhält.“ Nehmen wir einen der Alten, Theo Waigel, 76, CSU-Ehrenvorsitzender, ein früherer Ministerkollege der Unbeugsamen – sie erinnere ihn an Margret Thatcher. Ihm kommt ein Dialog in den Sinn, der sich am Ende seines Antrittsbesuchs als Finanzminister 1989 in London abspielte:

„Theo, bitte denken Sie über all die Dinge nach, die ich Ihnen heute Abend erzählt habe.“

„Ich werde es tun, Premierministerin, aber bitte denken Sie auch über die Dinge nach, die ich Ihnen erzählt habe.“

„Das werde ich tun, aber ich habe recht.“

Unbedingter Glaube an die Richtigkeit der eigenen Politik

Irgendwie erinnerten ihn Diktion und Haltung an Merkel und ihr „Wir schaffen das“, schrieb Waigel in einem offenen Brief im „Münchner Merkur“. Es ist der unbedingte Glaube an die Richtigkeit der eingeschlagenen Politik. Es ist ein zwiespältiger Vergleich, Thatcher hat ihr Land geprägt, aber am Ende hat ihre Partei sie aus dem Amt gedrängt. Sie war eisern, kompromisslos, unbeugsam – bis zur Unbelehrbarkeit.

Dass Argumente nicht mehr zählen, das Gefühl kennt Merkel indes auch. Zuletzt in der Unionsfraktion ging sie auf ihre Kritiker nicht mehr ein; sie schwieg frustriert. Auch drei Besuche bei der CSU in Bayern binnen drei Monaten brachten keine Annäherung. „Keine Spur des Entgegenkommens“, stellte Parteichef Seehofer fest. Als ob es ihm wirklich um „eine Spur“ ginge und nicht um das Eingeständnis eines Fehlers.

Es gab in Deutschland schon vorher eine diffuse Angst vor der Flüchtlingswelle – nach „Köln“ aber hat sich die Stimmung schnell verdüstert, wie im Zeitraffer. Es ist die schwierigste Lage, die sie als Kanzlerin erlebt hat. Wobei sie am meisten enttäuscht, „dass es so schwer ist, obwohl ich die Hoffnung nicht aufgegeben habe, in Europa zu einer fairen Lastenteilung zu kommen“.

Es gibt Staaten, an die kommt Merkel nicht heran

In Europa kommt sie kaum weiter. Vor den Grenzverschärfungen in Schweden und Österreich wurde sie nicht konsultiert, sondern nur in Kenntnis gesetzt. Es gibt Staaten, an die sie nicht herankommt, Polen etwa, und wieder andere, wo Druck sich verbietet: In Großbritannien würde es die Euroskeptiker beflügeln, und ist in Frankreich nicht Marine Le Pen ante portas?

Sie bestreitet zwar, dass es um sie einsam geworden sei (den Eindruck habe ich nicht), sie sei auch nicht demotiviert und nehme alles, „wie es kommt“, beteuern ihre Büchsenspanner. Allein, je mehr man sie in der EU hängen lässt, umso größer die Zweifel daheim. Die CSU setzt ihr von Woche zu Woche zu. In den nächsten Tagen bekommt sie wieder Post von der bayerischen Staatsregierung. CDU-Vizechefin Julia Klöckner profiliert sich mit einer nationalen Lösung, die sie nur aus Rücksicht auf die Chefin nicht Plan B, sondern Plan A2 nennt. Merkel muss befürchten, dass ihre Autorität zerrüttet wird. Als SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann vergangene Woche vor einer „Regierungskrise“ warnte, mochte ihm keiner widersprechen.

Im Sommer müssen Erfolge her

Das Frühjahr kann sie überstehen. Aber im Sommer darf die „europäische Lösung“ nicht länger eine Durchhalteparole sein, sondern muss Realität werden. Merkel verfolgt – bis in Details der Gesetzgebung –, was die Türkei unternimmt, regelmäßig bearbeitet sie störrische Kollegen, in dieser Woche den Italiener Matteo Renzi.

Jeden Tag verfolgt sie die Zahlen der Bundespolizei über die Grenzübertritte, die des UNHCR über die Zugänge auf die griechischen Inseln. Die Zahlen sinken. Aber sie sind nicht gering genug, nicht belastbar, um in die Offensive zu gehen. Erst im Frühjahr weiß Merkel, die Erfolge einzuschätzen. Falls sie sich nicht einstellen, kann sie einseitig Kontingente fixieren, Grenzen schließen, den Schengenraum ganz, teils, zeitweise aufgeben. Niemand würde ihr einen Vorwurf machen, alle ihr zugute halten, sie habe nichts unversucht gelassen. Keiner erwartet, dass sie es Obergrenze oder Plan B nennt. Hauptsache: Sie rudert zurück.

Manchmal sind Überzeugungen größer als Amt und Machterhalt

Früher war sie so geschmeidig, Positionen zu räumen. Aber es gibt Überzeugungen, die größer als das Amt und wichtiger als der Machterhalt sind. Helmut Schmidt wollte nicht vom NATO-Doppelbeschluss abrücken, Gerhard Schröder nicht von der Agenda 2010. Sie waren nicht bereit, einer Politik abzuschwören, die sie für richtig hielten. Merkel würde dazu wohl sagen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt, und wenn doch, dann nur als Farce.

Im Sommer muss sie sowieso ihrer Partei mitteilen, ob sie es 2017 noch einmal wissen will. Es wird viel davon abhängen, ob sie dieselbe Haltung teilen, die Union und ihre eiserne Lady.