Paris. Drei Tage lang hielten Terroristen vor einem Jahr Frankreich in Atem. Die traurige Bilanz: 17 Tote. Ein Rückblick auf die Ereignisse.
Der Anschlag auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am Donnerstag vor einem Jahr bildete den Auftakt zu drei Tagen des Terrors in Paris. Wir dokumentieren die Chronologie der dramatischen Ereignisse vom Januar 2015.
Mittwoch, 7. Januar:
Ein kühler Morgen in Paris, um die vier Grad, es regnet leicht. Der Trubel der Feiertage und des Jahreswechsels hat sich gelegt, die meisten Touristen sind wieder abgereist. Alltagsroutine. Nichts deutet an diesem Morgen darauf hin, dass für die Pariser und für ganz Frankreich schon bald drei Tage im Ausnahmezustand anstehen. Drei Tage, die das Land verändern werden.
• 10 Uhr: In der Rue Nicolas Appert Nummer 10, ein anonym wirkendes Bürohaus im 11. Pariser Stadtbezirk, beginnt die Redaktionskonferenz der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Die Redaktion war 2011 hierher, an die Peripherie der Hauptstadt, gezogen. Ein Brandanschlag hatte damals die Redaktionsräume verwüstet. Das Magazin, das mit seinen bitter-ironischen Karikaturen auch den Islam nicht verschont, ging als potenzielles Ziel islamistischer Terroristen. Magazin-Chef Stéphanne Charbonnier hat seitdem immer einen Leibwächter an seiner Seite. Kein Klingelschild weist am Hauseingang auf die Redaktion in der zweiten Etage hin. Alle 30 Minuten fährt ein Streifenwagen der Polizei durch die Rue Appert. An diesem Morgen ist sie fast menschenleer.
• 11.20 Uhr: Ein schwarzer Citroen C3 mit abgedunkelten Scheiben hält nicht weit von dem Bürogebäude entfernt. Zwei maskierte und mit Kalaschnikow-Sturmgewehren bewaffnete Männer in Kampfmontur entsteigen dem Kleinwagen und gehen zielgerichtet auf das Haus zu. Zunächst nehmen sie den falschen Eingang, laufen die Treppen hinauf, landen bei der Medienagentur Bayoo, wo sie Mitarbeiter nach „Charlie Hebdo“ fragen.
• 11.25 Uhr: Die beiden Männer bemerken ihren Fehler, hasten die Treppen wieder hinunter. Dort treffen sie auf die Cartoonistin Corinne Rey. Sie hat sich verspätet, will noch zur Redaktionskonferenz. Die Maskierten zwingen sie mit vorgehaltener Waffe, den Sicherheitscode für die Eingangstür einzutippen. Auf dem Weg in den zweiten Stock erschießen sie einen Wartungstechniker. Dann stürmen sie mit dem Ruf „Allah ist groß!“ die Redaktionsräume und eröffnen das Feuer. Nach fünf Minuten ist alles vorbei: Zehn Tote liegen in ihrem Blut. Die Täter rufen: „Wir haben den Propheten gerächt!“. Später wird die Polizei 31 Patronenhülsen Kaliber 7,62mm in dem Gebäude finden.
• 11.36 Uhr: Die Täter rasen mit ihrem Citroen los. Inzwischen haben die Überlebenden des Massakers in der Redaktion die Polizei alarmiert. Schnell treffen die flüchtenden Täter auf einen Polizeiwagen. Sie steigen aus, feuern auf den Beamten, rasen weiter. In der nahe gelegenen Rue Richard Lenoir treffen sie auf einen Polizisten, der per Fahrradstreife unterwegs ist. Sofort feuern sie. Der angeschossene und am Boden liegende Beamte wird per Kopfschuss von einem der Täter förmlich hingerichtet. Er ist das zwölfte Todesopfer binnen weniger Minuten.
• 11.40 Uhr: Die Mörder verursachen auf ihrer Flucht einen Unfall, lassen den C3 zurück. Die Polizei wird darin neben Waffen und Sprengstoff den Personalausweise eines der Täter finden und bald steht fest, wer die Maskierten Todesschützen sind: Said und Chérif Kouachi, zwei 32 und 34 Jahre alte Brüder, Söhne algerischer Einwanderer, in Frankreich geboren und französische Staatsbürger. Der US-Geheimdienst führte sie seit langem auf einer Liste von Terrorverdächtigen. 2011 hielten sich beide im Jemen in einem Ausbildungslager des Terror-Netzwerks Al-Kaida auf. In Paris läuft nun die Fahndung nach den Brüdern auf Hochtouren. Zunächst ohne Erfolg.
Donnerstag, 8. Januar
• 7.50 Uhr: In Montrouge, einem südlichen Vorort von Paris, kommt es in der Avenue Pierre Brissolette zum einem Verkehrsunfall. Eine 26-jährige Polizistin, die den Schaden aufnimmt, wird ohne jede Vorwarnung beschossen. Eine Kugel trifft die Beamtin tödlich am Hals, ein Kollege wird ebenfalls durch Schüsse schwer verletzt. Der schwer bewaffnete Täter flieht zunächst zu Fuß, dann mit einem gestohlenen Renault Clio. Die Tat gibt der Polizei Rätsel auf? Stecken die Brüder Kouachi dahinter?
• 9.15 Uhr: Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve fährt nach Montrouge zum Tatort. Er sagt, ein Zusammenhang mit dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ sei „bislang nicht erkennbar“.
• 10.30 Uhr: Nachdem über Nacht die Fahndung kein Ergebnis gebracht hat, gibt es die erste Spur der Kouachis. An einer Tankstelle bei Villers-Cotterêts, rund 80 Kilometer nordöstlich von Paris, tanken sie mit einem gestohlenen Pkw, nehmen Getränke und Lebensmittel mit. Doch dann verliert sich ihre Spur erneut.
Am Abend identifiziert die Polizei mit Hilfe von Zeugen des Mordes von Montrouge den Schützen als den 32-jährigen Amedy Coulibaly. Er stammt aus Mali und ist der Polizei bekannt – als Mitglied einer Islamistengruppe mit dem Namen „Dschihadisten von Buttes-Chaumont“. Er hatte mehrere Jahren wegen Raubüberfällen und Drogendelikten in Haft gesessen. Hat er Kontakte zu den Kouachi-Brüdern? Ist Coulibaly „der dritte Mann“?
Freitag, 9. Januar:
• Ca. 9 Uhr: Zwei bewaffnete Männer in schwarzer Kleidung dringen in die Druckerei CDT in Dammartin-en-Goële ein, gut 30 Kilometer nordöstlich von Paris. Sie nehmen den Geschäftsführer als Geisel, einem Mitarbeiter gelingt es, sich in einem Küchenschrank zu verstecken. Die Bewaffneten verhalten sich seltsam, sie erlauben dem Druckerei-Chef, die Polizei zu alarmieren, telefonieren selbst mit einem Fernsehsender. Schon bald rücken Sondereinsatzkräfte an, umstellen das Gebäude. Doch die Geiselnehmer stellen keine Forderungen. Es ist ein Nervenkrieg. Doch der Horror geht weiter.
Ein Jahr danach – Bilder des Terrors
• 13.35 Uhr: Mit gezückter Waffe stürmt ein Mann den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher an der Avenue de la Porte de Vincennes in Paris. Es ist Amedy Coulibaly, der Todesschütze von Montrouge. Er ruft: „Ihr seid Juden, ihr werdet heute alle sterben!“ In dem Laden bricht Panik aus, einige Kunden können sich in einen Kellerraum flüchten. Coulibaly selbst ruft die Polizei per Notruf an, er sagt: „Ihr wisst, wer ich bin.“ Mehr nicht. Dann tötet er vier Menschen, die sich in dem Laden befinden. Später meldet er sich telefonisch bei einem TV-Sender und erklärt, sein Überfall sei mit dem Attentat der Kouachis abgestimmt. Er telefoniert noch mehrfach, bis er einen Fehler macht: Er legt nicht richtig auf ab sofort hört die Polizei mit, was sich im Laden abspielt.
• 17.05 Uhr: Geiselnehmer Coulibaly beginnt im Supermarkt zu beten. Für die Polizei ist es das Zeichen zum Zugriff. Blendgranaten. Schüsse. Coulibaly wird von Polizeikugeln tödlich getroffen. Vier Polizisten werden verletzt. Fast zeitgleich wird die Polizei auf in Dammartin-en-Goële aktiv und rücken auf die Druckerei vor. Die Brüder Kouachi stürmen aus dem Gebäude, beim Schusswechsel mit der Polizei werden sie getötet. Die Beamten finden am Tatort zwei Kalaschnikows, eine Panzerfaust, eine Granate, Nebelkerzen.
• Die Bilanz: Am Ende der drei Terror-Tage von Paris stehen 17 Mordopfer, mehrere Verletzte, dazu drei tote Täter. Die internationale Solidarität mit Frankreich ist enorm, der Satz „Je suis Charlie“ wird zu ihrem Symbol. Zurück bleibt eine traumatisierte Nation, die sich nur langsam aus ihrer Schockstarre löst – und die in diesen Januar-Tagen nicht ahnen kann, dass zehn Monate später der Horror in noch einem viel größeren Ausmaß nach Paris zurückkehren wird.