Dreieich/Berlin. In Hessen werden Schüsse auf einen Asylbewerber abgegeben. Der oder die Täter können fliehen. Geht es um rechtsextreme Motive?

Das Flüchtlingsheim steht in der Gleisstraße, die so heißt, weil direkt daneben der Zug halbstündig nach Frankfurt rattert. Das Heim hat drei Stockwerke, es liegt etwas versteckt in einem Industriegebiet, gleich neben einem Drogeriegeschäft und hinter einem Supermarkt. Rund 30 Meter vor dem Gebäude ist das Absperrband der Polizei angebracht. Wo das Band endet, ist der Eingang der Glocken Bäckerei. Hinter und vor der Theke gab es hier den ganzen Tag immer wieder nur ein Thema: „Stell dir vor, du liegst im Bett, und es schießt einfach jemand durchs Fenster.“ Die Verkäuferin sagt diesen Satz immer wieder: „Egal, wo derjenige herkommt, das ist doch unfassbar.“ Dabei wussten die wenigsten, dass hier auf dem Gewerbegebiet überhaupt ein Flüchtlingsheim steht. Jetzt wissen es alle.

Am frühen Montagmorgen kurz vor 2.30 Uhr durchlöchern mehrere Schüsse die Fensterfront des Flüchtlingsheims im hessischen Dreieich, rund 20 Kilometer südlich von Frankfurt. Ein Projektil trifft einen schlafenden, 23-jährigen Asylbewerber am Bein. Der Mann wird leicht verletzt. Es ist der bundesweit erste Angriff mit einer scharfen Schusswaffe auf einen Flüchtling. Der oder die Täter sind flüchtig. Denkbare Motive reichen von einer Beziehungstat bis zu einem geplanten Anschlag mit fremdenfeindlichem Hintergrund.

Mehrere Projektile werden am Tatort gefunden

Die ermittelnde Staatsanwaltschaft Darmstadt gehe „von einem gezielten Angriff aus“, so Sprecherin Nina Reininger. 90 Ermittler, „ein Großaufgebot“, arbeiteten „unter Hochdruck“ an der Aufklärung des Falles.

Eine Schlüsselrolle haben dabei Experten des Hessischen Landeskriminalamtes (LKA): Spezialisten sollen den Tatverlauf vor Ort rekonstruieren. Die LKA-Tatortgruppe sei mit einer besonderen Technik ausgerüstet, die Flugbahn und Abschussort von Geschossen mittels 3-D-Technik nachstellen könne, sagt ein LKA-Sprecher. Projektile seien am Tatort gefunden worden, erfuhr unsere Redaktion aus Ermittlerkreisen.

Für die Spurensuche wurde der Tatort im Landkreis Offenbach weiträumig abgesperrt. Straßen und Zugverbindungen blieben für einige Zeit gesperrt. Die Polizei setzt auf Zeugen. Allerdings blieb ein Hinweis auf einen vermummten Täter am Montag ohne Bestätigung.

„Gerade mit Migranten haben wir keine Probleme“

Rund 40.000 Menschen leben in Dreieich, darunter 430 Flüchtlinge. In der betroffenen Unterkunft wohnen aktuell 30 Flüchtlinge. Der Teil des Gebäudes, der unter Beschuss geriet, beherbergt laut der Stadt 15 Männer: 14 Syrer und einen Afghanen. In dem Anbau, der zum Flüchtlingsheim gehört, leben vier Familien.

Alice Stoppka wohnt seit 40 Jahren in Dreieichenhain und ist wie jeden Tag mit ihrem Hund unterwegs. „Das ist meine Strecke hier mit Chello“, sagt sie. „Wir laufen viermal am Tag hier lang.“ Die 78 Jahre alte Frau ist gut zu Fuß und hat sich schon am Morgen gewundert, dass alles voller Polizei war. Hier, das ist der kleine Platz neben dem Rewe-Supermarkt, neben Lidl, dm und Aldi. Friedlich sei diese Gegend, sagt Alice Stoppka. „Gerade mit Migranten hatten wir hier keine Probleme“, sagt sie. „Meine Nachbarn kommen aus Afrika und dem Iran, die helfen mir, wenn ich jemanden brauche.“ Außerdem wohnten doch hier sonst nur Familien. Früher habe die Gegend einmal Millionenhügel geheißen, wegen der teuren Häuser. Das mit den Schüssen passt nicht hierher.

Bisher herrschte Ruhe rund um das eingezäunte Flüchtlingsheim. Bis die Schüsse einschlugen. Der stellvertretende Landrat Carsten Müller (SPD) ist entsetzt und hofft, dass sich die Lage nicht zuspitzt. „Die Stimmung darf jetzt nicht kippen“, sagte Müller dieser Zeitung. Er gehe derzeit „nicht von einer veränderten Gefährdungslage aus“.

Linke-Chef Bernd Riexinger spricht von braunem Terror

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist sich da nicht so sicher. Für den stellvertretenden Geschäftsführer Bernd Mesovic steht fest: „Die Verwendung scharfer Munition ist eine neue Qualität der Gewalt.“ Schon Brandsätze hätten „eine Schwelle überschritten“, doch jetzt sei ein neuer Damm gebrochen. „Wer auf bewohnte Ziele schießt, muss mit verletzten oder getöteten Menschen rechnen und nimmt Todesopfer in Kauf.“

Auch die Politiker in Berlin sind alarmiert. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) reagierte entsetzt auf die Tat: Man dürfe nicht zusehen, wie sich die Spirale der Gewalt weiterdrehe, schrieb er auf Twitter. Der Rechtsstaat dürfe und werde das nicht hinnehmen. Linke-Chef Bernd Riexinger spricht von einem feigen Angriff und braunem Terror. „Rechtsextremismus und Rassismus müssen endlich von der Bundesregierung zur Chefsache erklärt werden, Flüchtlinge müssen besser geschützt und Täter endlich entschlossen verfolgt werden“, sagte Riexinger unserer Redaktion. Auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter fordert: „Die Sicherheitsbehörden müssen den Kampf gegen rechtsextreme Gewalt verstärken.“

792 Straftaten von Rechts motiviert

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im Jahr 2015 bundesweit 887 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte registriert. Darunter waren 150 Gewalttaten, wie eine BKA-Sprecherin sagt. 792 Straftaten seien dem rechten Spektrum zuzuordnen.

Ein Beispiel: In Hofheim im Main-Taunus-Kreis, rund 20 Kilometer vom Tatort in Dreieich entfernt, wurden im April 2015 mehrere Schüsse mit einer Gaspistole auf eine Asylbewerberunterkunft abgegeben. Im November erhob die Staatsanwaltschaft dann Anklage gegen einen 20 Jahre alten Mann, einem mutmaßlichen NPD-Sympathisanten.

Anna Strelec, 67, wohnt seit 34 Jahren hier und kennt die Gegend auch nur als eher fremdenfreundlich. Sie selbst engagiert sich zwar nicht für Flüchtlinge, aber kennt viele, die das tun. „Ich habe einmal eine junge Frau mit einem kleinen Kind im Arm hier bei Rewe getroffen“, sagt sie. „Sie sprach kaum Deutsch, aber sie hielt diesen Joghurt in die Höhe und fragte: ,Essen?‘ Ich musste lachen und zeigte ihr, wie man ihn öffnet. Sonst fallen die Asylbewerber hier in der Gegend nicht auf.“ Zu den Schüssen sagt sie: „Ich hoffe, das klärt sich schnell auf.“