Berlin. . Zehntausende Flüchtlingskinder kommen nächstes Jahr in die Schulklassen. Die Lehrerverbände fordern eine zweite Einstellungswelle.

Drei Monate ist es her, dass Angela Merkel eine Kreuzberger Flüchtlingsklasse besucht hat: Es war derselbe Tag, an dem auch die Selfies entstanden, die Merkels Ruf als Flüchtlingskanzlerin in die Welt trugen. Die Stimmung damals: Optimismus. Wir schaffen das. „Es lohnt, sich um jedes einzelne Kind zu bemühen“, erklärte Merkel nach der Schulstunde mit den Flüchtlingskindern. In den Schulen versuchen sie das seither mit viel Geduld und Einfallsreichtum: Die Länder haben mehr als 7000 neue Lehrerstellen geschaffen, sie arbeiten aber auch mit Hilfskräften, Studenten und Pensionären. Doch die größte Herausforderung kommt erst 2016: Zehntausende Kinder und Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien warten noch in den Erstaufnahmeeinrichtungen auf einen Schulplatz. Die Lehrerverbände sind alarmiert.

„Die Nagelprobe für die Schulen kommt im nächsten Jahr“, sagte Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) der Berliner Morgenpost. „Ein Großteil der Flüchtlingskinder ist bislang noch gar nicht in den Schulen angekommen.“ Auch Heinz-Peter Meidinger warnt: „Das Problem ist in seiner ganzen Dimension noch gar nicht sichtbar“; Der Vorsitzende des Philologenverbands sagt: „Maximal die Hälfte der Flüchtlingskinder, die dieses Jahr nach Deutschland gekommen sind, sind schon an den Schulen angekommen.“

Die Kultusminister der Länder rechneten im Herbst damit, dass rund 325.000 schulpflichtige Flüchtlingskinder in Deutschland leben, aus Sicht der GEW wären dafür bis zu 25.000 neue Lehrer nötig. Doch seitdem sind die Zahlen weiter gewachsen. Und: Weil in vielen Ländern die Schulpflicht aber erst nach drei, mancherorts auch erst nach sechs Monaten greift und viele unbegleitete Minderjährige noch gar nicht in den Städten angekommen sind, wo sie auf Dauer zur Schule gehen werden, wird das nächste Jahr für die Schulen noch viel anstrengender als 2015. Allein in Nordrhein-Westfalen rechnet das Schulministerium mit einer Verdopplung der Zahl der schulpflichtigen Flüchtlingskinder – von 40.000 Kindern in diesem Jahr auf 80.000 in 2016. „Im nächsten Jahr wird es eng“, sagt Tepe. „Viele Schulen haben jetzt schon keine Räume mehr für zusätzliche Klassen. Und die Personallücken werden größer: Um genügend Lehrer zu finden, müsste es bereits jetzt eine zweite Einstellungswelle geben.“

2015 hat Berlin 420 Stellen für Willkommensklassen geschaffen

Die erste Einstellungswelle läuft gerade: Die Länder schaffen neue Planstellen für arbeitslose Lehrer und frisch ausgebildete Referendare – füllen die Lücken aber auch mit Hilfskräften, Studenten und Quereinsteigern oder holen pensionierte Lehrer aus dem Ruhestand zurück. Hamburg hat allein für die Flüchtlingskinder in diesem Jahr 350 neue Lehrer eingestellt, Berlin hat 420 neue Vollzeitstellen für die Willkommensklassen geschaffen, in NRW gibt es seit diesem Jahr rund 2400 neue Lehrerstellen nur für die Flüchtlingskinder. Die von den Lehrerverbänden angepeilte Zahl von über 20.000 Stellen wird bei Weitem nicht erreicht: „Wir schätzen, dass bislang 7000 neue Lehrerstellen für die Flüchtlingskinder geschaffen wurden“, sagt Meidinger. Die „Bild“-Zeitung kam in einer Umfrage auf rund 7800 Lehrer.

Während Berlin in den Flüchtlingsklassen vor allem auf Deutschlehrer aus der Erwachsenenbildung und aus Sprachschulen setzt, gehen andere Länder auch auf ihre Pensionäre zu: In Hamburg bekamen rund 1500 Lehrer im Ruhestand Post vom Senat – 150 davon erklärten sich bereit, in der Flüchtlingsbeschulung mitzuhelfen. Auch die niedersächsische Kultusministerin hat Ruheständler rekrutiert: 17.000 pensionierte Lehrer bekamen Post, 140 Stellen mit zeitlich befristeten Verträgen waren zu vergeben – rund 370 pensionierte Lehrkräfte hatten sich zuletzt beworben. „Es kann sehr sinnvoll sein, als Übergangslösung zeitlich befristet auch auf pensionierte Lehrer zu setzen“, sagt GEW-Chefin Tepe: „Wer älter ist, hat mehr Erfahrung – auch mit geflohenen, traumatisierten Flüchtlingskindern.“ Etwa aus der Zeit der Balkankriege in den 90er-Jahren, als Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Viele Länder wollen jetzt sogar die Pensionsregeln ändern, damit es sich für Ruheständler überhaupt lohnt, stundenweise zurück an die Schulen zu kommen.

Philologenverband spricht von „Notsituation“

Trotz der bundesweiten Einstellungswelle bleiben an vielen Schulen Lücken. „Wir haben eine Notsituation“, sagt der Philologen-Vorsitzende Meidinger: „Es ist besser jemanden zu haben, der keine richtige Qualifikation hat, als keinen einzustellen. Viele Schulen stellten mit eigenen Mitteln Hilfskräfte ein – zum Beispiel arabischsprachige Studenten.“ Meidinger fordert von den Ländern neue Initiativen: Um die Lücken zu schließen, sollten sie auch auf die Lehrer aus deutschen Auslandsschulen setzen: „Wir haben rund 4000 bis 5000 Lehrer, die in den letzten Jahren nach Deutschland zurückgekehrt sind – entweder in den regulären Schuldienst oder in den Ruhestand. Sie haben Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und kennen sich mit anderen Kulturen aus. Der Staat sollte ihnen ein gutes Angebot machen.“

Nicht nur die Lehrerverbände schauen mit Sorge auf das neue Jahr: In einer Forsa-Umfrage unter Schülern und jungen Erwachsenen zwischen 14 und 21 Jahren sagten rund 75 Prozent, dass das deutsche Schulsystem nicht gut auf die wachsende Zahl der Flüchtlingskinder vorbereitet sei. Im Osten glauben das sogar neun von zehn jungen Deutschen.