Karlsruhe. Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe durch. Und wird bejubelt.

Sie kam, sah und genoss. Schon als Angela Merkel den Parteitag eröffnete, erhoben sich die Delegierten von den Sitzen und applaudierten. „Ich habe doch noch gar nichts gemacht“, wunderte sich die Kanzlerin, „wir haben heute noch was vor“. In diesem Moment, ein Blick genügt, weiß Merkel: Sie wird leichtes Spiel haben.

Der CDU-Parteitag ist ihr gefolgt und hat ihre Flüchtlingspolitik abgenickt. Die 1000 Delegierten in Karlsruhe nahmen ihr das Versprechen ab, die Zahl der Asylbewerber „spürbar“ zu reduzieren, wie es in einem Beschluss heißt. Wie sie ihn umsetzen will – und bis wann –, das bleibt der Bundeskanzlerin allein überlassen.

Es war eine verkappte Vertrauensfrage. Am Montag wurde sie entschieden, eindeutig entschieden. Eine häufige Erklärung, die in den Flurgesprächen in der Karlsruher Messehalle zu hören war, lautete: „Gabriel“. Sigmar Gabriel. So wie die SPD ihren Chef abgemeiert hatte, wollte die CDU nicht mit ihrer Vorsitzenden umgehen. Sie sollte alarmiert werden, deswegen die kritische Debatte im Vorfeld. Sie sollte den Schuss hören. Aber sie sollte nicht gedemütigt werden.

Die Wahlkämpfer wollen mit der Persönlichkeit des Jahres werben

Guido Wolf, der Spitzenkandidat der CDU in Baden-Württemberg, traf als Gastgeber von der ersten Minute an den Ton: „Sie rackern für unser Land“, lobte er Merkel. Schon am Vortag hatte er klargemacht, es gehe darum, die Partei „zu einen“. Dafür sprach der schiere Eigennutz. Am 13. März stehen drei Landtagswahlen an, für Wolf, aber auch für seine Kollegen aus Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Sie wollen keinen Streit, keine schlechten Schlagzeilen. Sie wollen mit der „Persönlichkeit des Jahres“ („Time“) werben.

Mehr als eine Stunde lang hat Merkel zu den 1000 Delegierten geredet, ruhig, klar, sachlich, unbeirrt, offensichtlich: begeisternd. Fast zehn Minuten lang haben sie die Kanzlerin danach gefeiert. Merkel hat diese Bestätigung gebraucht und sie abgefordert. Sie wollte wissen, ob die Partei in ihr nur eine Schönwetter-Kanzlerin sieht oder ob sie ihr auch in schwierigen Zeiten folgen wird.

Sie genießt die Begeisterung der Delegierten

Umso mehr hat sie die Ovationen genossen. Hat, versonnen lächelnd, die Hände mal gefaltet, mal zur Raute geformt, den Applaus aufgenommen, hat gewunken, sich verbeugt, nach allen Seiten des Saals gedreht, hat sich gesetzt und kurz die Haare gerichtet, um wieder aufzustehen und die Bühne in ihrer ganzen Breite abzulaufen. Den ersten Versuch, den Saal zu beruhigen, unternahm sie nach fünf Minuten nur halbherzig, erst nach fast zehn Minuten schritt sie zum Pult und bedeutete den Delegierten, sich zu setzen: „Ich möchte sie darauf hinweisen, liebe Leute, danke, danke, aber wir haben noch zu arbeiten.“

Es sei „keine Inszenierung“ gewesen, beteuerte der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), das „grandiose Bekenntnis“ sei ehrlich gewesen. Es gibt Merkel unmittelbar Auftrieb, denn noch in dieser Woche stehen ein EU-Rat, ein Gipfel mit der Türkei und in Brüssel eine Initiative zur Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an. Europa ist immer noch das erste und vielleicht das einzige Konzept Merkels in der Flüchtlingskrise. „Liebe Freunde, es lohnt sich, in den Kampf um ein einheitliches Vorgehen zu gehen“, rief sie aus. Abschottung sei im 21. Jahrhundert „keine vernünftige Option“. Auch am Ende dieses „unglaublichen Jahres“ (Merkel) hat sie keinen Plan B.

„Es war ein humanitärer Imperativ“

Sie hat ganz ruhig die Entwicklung beschrieben – nach der berühmten Nacht vom 4. auf den 5. September. Da hingen die Menschen in Budapest fest und machten sich zu Fuß auf dem Weg nach Österreich und Deutschland. „Das war eine Lage, die unsere europäischen Werte wie selten zuvor auf den Prüfstand gestellt hat. Es war ein humanitärer Imperativ“, sagte Merkel.

Die Kanzlerin hat damals aus vollem Herzen und aus Überraschung die Grenzen geöffnet und „Wir schaffen das“ gerufen. Dann hat sie etwas erlebt, „womit ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gerechnet habe“. Ihr „Wir schaffen das“ wurde angezweifelt. Aber sie beharrte auch gestern darauf. „Ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Großes zu leisten“. Da sieht sie sich in der Tradition der großen CDU-Kanzler. Konrad Adenauer habe Freiheit versprochen, nicht nur „etwas“ Freiheit. Ludwig Erhard propagierte Wohlstand für alle, nicht für „fast alle“. Und Helmut Kohl wollte 1990 die neuen Länder in blühenden Landschaften verwandeln, nicht nur „einige Länder“, alle. Da reiht sich Merkel ein – mit ihrem „Wir schaffen das“.

Wenn die Partei jetzt tatsächlich zweifeln würde, „dann sind wir nicht die CDU“, sagte Merkel in Karlsruhe, „aber wir sind die CDU und deswegen werden wir das schaffen.“

Was werden die Menschen 2025 über die Regierung von heute sagen?

Um die Christdemokraten zu überzeugen, griff sie zu einem rhetorischen Kniff. Die Delegierten sollten sich vorstellen, es sei jetzt nicht das Jahr 2015, sondern 2025. Was würden die Menschen in der Zukunft sagen, wenn sie zurückschauen? Dass die Regierung mit dem Beginn des Flüchtlingsstroms im August sich nicht einmal vier Monate genommen und gleich die Flinte ins Korn geworfen habe? „Wie würde man an uns denken?“

Vor der Antwort darauf hat die Kanzlerpartei Angst bekommen und im Leitantrag auf jeden störenden Satz verzichtet. Kein Wort über Obergrenzen, über die strikte Wiederaufnahme von regelmäßigen Grenzkontrollen. Geblieben ist der dünne Satz, die Zahl der Flüchtlinge „spürbar“ zu reduzieren.

Merkel hat (unbestimmte) Zeit, ihren Weg zu gehen: Auf europäischer Ebene Maßnahmen zu ergreifen; auch die Türkei in die Pflicht zu nehmen; die Außengrenzen besser zu schützen, um die Flüchtlinge dort aufzufangen, zu verteilen oder zurückzuführen. „Das ist das Wesen von Dublin, dafür kämpfen wir“. Merkel will, dass die EU-Regeln wieder eingehalten und dass die Grenzen im Schengen-Raum offen bleiben.

Augen zu und durch, lautet das unerklärte Motto des Parteitages

Europa sei unendlich mühsam, „manchmal ist es zum Verrücktwerden“, gestand Merkel, aber immer habe man die Herausforderungen gemeistert, „manchmal mit Ach und Krach, manchmal auf die letzte Minute“. Merkel hat die Geduld dazu und will sich die Zeit nehmen, die sie braucht, egal wie lang.

Der einzige Christdemokrat, der bisher unbeirrt darauf pocht, den Flüchtlingsstrom „bis Jahresende“ zu stoppen, ist CSU-Chef Horst Seehofer, den Merkel mit keinem Satz erwähnt hat und der heute in Karlsruhe erwartet wird. Und dieser Horst Seehofer muss sich entscheiden, ob das unerklärte Motto von Karlsruhe auch für ihn und seine Partei gelten kann.

Es lautet: Augen zu und durch.