Berlin. Notker Wolf ist Chef des weltweiten Benediktinerordens. Er sagt: Im Jahr der Barmherzigkeit muss sich die Kirche selbst hinterfragen.

Mit dem Öffnen der Heiligen Pforte im Vatikan startet Papst Franziskus am 8. Dezember das Heilige Jahr. Der Pontifex hat es der „Barmherzigkeit“ gewidmet. Ein Begriff der verstaubt anmutet, wie aus der Zeit gefallen. Was bedeutet Barmherzigkeit heute? Und wie barmherzig ist die Kirche selbst? Darüber sprachen wir mit Abtprimas Notker Wolf, weltweit höchster Repräsentant des Benediktinerordens mit Sitz in Rom. Notker Wolf (75) hat sich als Bestsellerautor („Jetzt ist Zeit für den Wandel“) und Publizist oft kritisch auch mit der Kirche auseinander gesetzt.

Abtprimas Wolf, warum hat der Papst das Heilige Jahr unter die Überschrift Barmherzigkeit gestellt?

Notker Wolf: Er ist überzeugt, dass Barmherzigkeit den Kern der Frohen Botschaft Jesu ausmacht. Der schwache, sündhafte Mensch bedarf der Barmherzigkeit Gottes und der Menschen, um inneren und äußeren Frieden zu erlangen. In den Augen des Papstes ist die katholische Kirche zu sehr bestimmt von kirchenrechtlichem Denken, das der Not des Menschen nicht gerecht wird. Barmherzigkeit und Vergebung sind auch die einzigen Wege, um Frieden in und unter den Völkern herzustellen, im Gegensatz zu Kriegen oder zum Gleichgewicht der Waffen.

Was bedeutet Barmherzigkeit in der heutigen Zeit?

Wolf: Barmherzigkeit entwertet nicht die Gerechtigkeit, sondern macht sie menschlich. Sie ist sozusagen die größere Gerechtigkeit, weil sie den Menschen in seiner konkreten Situation berücksichtigt. Barmherzigkeit ist dort gefragt, wo die menschliche Situation so verfahren ist, dass es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Gerichtsurteile haben darauf zu achten, dass der Verurteilte noch eine Zukunft hat oder aufbauen kann. Unbarmherzig zeigt sich die moralische und politische Korrektheit unserer Gegenwart, sie lässt keine Vergebung zu. Sie fordert und verurteilt gnadenlos.

Wie meinen Sie das konkret?

Wolf: Sie blicken verächtlich auf die Raucher, die Dicken und die Fleischesser und schreiben uns vor, was wir sagen oder nicht denken dürfen. Wenn ein Politiker merkt, dass die Bürger nicht bereit sind, seinen Vorschlag des Veggie-Days anzunehmen, und sagt: „Die sind eben noch nicht so weit“, dann finde ich das reichlich bevormundend.

Bedeutet Barmherzigkeit auch abgeben, teilen?

Wolf: Ein barmherziger Mensch schaut nicht auf sich, sondern auf den andern, versetzt sich in die Not des andern. Das motiviert ihn zum Verzicht und zu teilen, wie der Heilige Martin seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt hat. In der christlichen Tradition hat sich eine Tradition der „Werke der Barmherzigkeit“ herausgebildet: Hungernde speisen, Durstigen zu trinken geben, Kranke pflegen, Sterbende begleiten, Tote bestatten, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Gefangene besuchen, Trauernde trösten. Barmherzigkeit bedeutet immer ein Mehr gegenüber der rechtlichen Verpflichtung, nämlich da wo die moralische Verantwortung auftritt.

Zeigt sich Europa gerade barmherzig mit den Flüchtlingen, die hierher kommen?

Wolf: Unterschiedlich. Deutschland scheint an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt zu sein. Andererseits kann sich Europa nicht abschotten. Es gibt in Europa viel Reichtum und es gehört zu den Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft, für die Minderbemittelten Mitverantwortung zu übernehmen. Durch die Globalisierung kommt diesem Prinzip eine größere Dimension zu. Barmherzigkeit in konkrete Strategien und Lösungen umzusetzen, ist nicht leicht. Aber dafür hat Gott uns den Verstand gegeben, und das Herz. Europa muss aus seinem selbstbezogenen Dornröschenschlaf aufwachen.

Lebt die Kirche selbst die Barmherzigkeit vor, zu der sie auffordert?

Wolf: Jein. Sie leistet sehr viel im caritativen Sektor, in der Entwicklung armer Länder in Bildung, Medizin und der Landwirtschaft. Sie hat die Barmherzigkeit „institutionalisiert“ und damit „ausgelagert“. Barmherzigkeit zu „organisieren“ ist sicher hilfreich. Konkrete Lebenssituationen, den Umgang mit Menschen hat die Kirche neu vom Evangelium her zu bedenken. Das war das Anliegen des Papstes Franziskus, als er die Familiensynode einberief. Auch hier sollte Barmherzigkeit vor strengem Gericht gehen. Das Leben in der heutigen Gesellschaft ist sehr komplex geworden, und der Mensch ist schwach und bleibt auf die Barmherzigkeit angewiesen, die Gott ihm zugesagt hat.