Washington. Mustafa al-Aziz al-Shamiri ist nicht der Al-Kaida-Ausbilder, für den die USA ihn hielten. Trotzdem sitzt er seit Jahren hinter Gittern.

Nach 17 Minuten brach das Video ab, in dem Journalisten in der Nähe von Washington am Dienstag die jüngste Anhörung von Guantánamo-Häftling YM-434 mitverfolgen durften. „Geheimhaltungsgründe“, begründete ein Pentagon-Offizieller das abrupte Ende. Doch was zuvor öffentlich geworden war, teils durch Äußerungen des vom Militär gestellten juristischen Beistands von Mustafa al-Aziz al-Shamiri, teils durch Papiere des US-Verteidigungsministeriums, reichte bereits aus für Meldungen, die wieder einmal drastisch die Fragwürdigkeit des Terrorgefangenenlagers auf Kuba deutlichen machen.

Demnach sitzt der im Juni 2002 aus dem afghanischen Masar-i-Scharif auf die karibische Insel verbrachte Mann aus dem Jemen seit dreizehneinhalb Jahren in Haft – obwohl er de facto nur ein ungefährlicher Mitläufer war.

Die Behauptung, der heute 37-Jährige sei als Kurier und Ausbilder für Al-Kaida tätig gewesen, kassierte das Pentagon selbst ein. „Diese Aktivitäten wurden von anderen Extremisten durchgeführt, die Tarn-Namen oder ähnliche Namen wie YM-434 haben“, heißt es in einer öffentlich zugänglichen Unterlage einer Kommission, die regelmäßig untersucht, ob Gefangene für eine Freilassung in Frage kommen.

Parallelen zum Fall Murat Kurnaz aus Deutschland

Der Fall weist damit gewisse Parallelen zum ehemaligen Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz aus Deutschland auf. Dessen angebliche Nähe zu einem Selbstmordattentäter ging ebenfalls auf eine Verwechslung zurück. Das hatten das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungschutz intern eingeräumt. Kurnaz kam 2006 frei.

Im Fall Al-Shamiri stellte der Militär-Anwalt des Häftlings bei der Anhörung fest, dass der aus der jemenitischen Hauptstadt Sanaa stammende Mann „Entscheidungen aus seinen Jugendjahren bereut“ und in ein normales Leben zurückkehren wolle. Hintergrund: Mit 16 verschrieb sich Al-Shamiri offenbar dem Bürgerkrieg im Jemen. Auch soll er laut Pentagon Mitte der 90er-Jahre im Bosnien-Krieg gekämpft haben.

Allerdings, so stellt das Verteidigungsministerium klar fest, sei Al-Shamiri kein Vertreter des „globalen Dschihads“. In Guantánamo half Al-Shamiri dabei, Streitigkeiten unter Zellennachbarn zu schlichten. In der Haft besuchte er Englisch-Kurse und lernte Tischlern und Kochen. Seine Eltern betreiben in Sanaa ein Geschäft. Sie haben für ihren Sohn eine Ehefrau ausgesucht, heißt es in den Pentagon-Unterlagen. Im Falle seiner Freilassung würden die Eltern, „emotionale, spirituelle und finanzielle Hilfe“ leisten.

„Ewigkeits-Gefangene“ – zu gefährlich, um entlassen zu werden

Al-Shamiris Fall ist nach Angaben von Menschenrechts-Organisationen kein Einzelfall. Von den ursprünglich mehr als 800 Gefangenen, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ab Januar 2002 nach und nach in Guantánamo landeten, wurden nach kurzer Zeit Hunderte entlassen, weil sie sich schnell als unschuldig erwiesen. Darunter waren oft Nomaden oder afghanische Ziegenhirten, die Opfer von übler Nachrede oder einer Namensverwechslung wurden.

In anderen Fällen dichteten sich die Terrorbekämpfer Verdachtsmomente zusammen. „Vieles beruhte auf Gerüchten oder Aussagen von Personen, die sich die Amerikaner unter Zwang oder Folter gefügig gemacht haben“, sagte ein Bürgerrechts-Anwalt, der mehrere Häftlinge vertritt, dieser Redaktion.

USA wollen niemanden in den Jemen zurückschicken

Al-Shamiri gehört in Guantánamo, wo zurzeit noch 107 Männer inhaftiert sind, bislang in die Kategorie der 59 sogenannten „Ewigkeits-Gefangenen“. Sie gelten laut Pentagon als zu gefährlich, um entlassen zu werden. Den Prozess will man ihnen aber auch nicht machen, weil gegen sie entweder zu wenig Beweismaterial vorliegt – oder weil die USA dann offenlegen müssten, dass Folter-Methoden wie „water-boarding“ zum Einsatz kamen.

Nach Bekanntwerden der Namensverwechslung gehen Sicherheitskreise in Washington davon aus, dass Al-Shamiri in die Kategorie jener 48 aus dem Jemen stammenden Gefangenen „verlegt“ wird, die seit Jahren zur Freilassung anstehen, weil sie offiziell als unschuldig gelten. Sie sind nur deshalb noch in Guantánamo, weil die USA niemanden in den für Terror äußerst anfälligen Jemen zurückschicken wollen. Und weil sich nicht ausreichend viele Drittländer finden, die Jemeniten aufnehmen würden.

Rückschlag für Obamas Schließungspläne

Unterdessen haben die Bemühungen von US-Präsident Barack Obama, Guantánamo ganz zu schließen und die verbliebenen Gefangenen auf das amerikanische Festland zu überstellen, erneut einen schweren Rückschlag erlitten. Nachdem zuletzt der republikanisch beherrschte Kongress per Gesetz den Weg zur Aufgabe Guantánamos rechtlich nahezu komplett verbaut hat, bleibt Obama nur noch die präsidiale Sonderverordnung, um sein 2008 im Wahlkampf gegebenes Versprechen einzulösen und den „Knast in der Karibik“ aufzugeben.

Wichtigste Begründung: Mit jährlichen Kosten von 400 Millionen Dollar sei Guantánamo viel zu teuer. Außerdem diene das Gefangenenlager islamistischen Terror-Netzwerken als Instrument, um neue Kämpfer zu rekrutieren.

In Vorbereitung einer Entscheidung hatte Obama dem Pentagon den Auftrag erteilt, alternative Haft-Standorte in den USA zu untersuchen. Erste Zahlen, über die am Mittwoch das „Wall Street Journal“ berichtete, wurden im Weißen Haus als indiskutabel bezeichnet. Danach schlüge die Schließung mit 600 Millionen Dollar zu Buche. Weitere 350 Millionen Dollar würden für den Bau eines neuen Gefängnisses fällig.

Obama hat das Konzept zur Überarbeitung an Verteidigungsminister Ashton Carter zurückgegeben. In weniger als einem Jahr sind Neuwahlen in Amerika. Die Chancen, dass Guantánamo bis dahin geschlossen wird, sind damit erneut stark gesunken.