Brüssel. Cyber-Attacken aufs Stromnetz, die Wasserversorgung oder die Flugsicherung. EU-Digitalkommissar Oettinger über den neuen Terrorismus.

Terroralarm in Europas Hauptstadt: Nach den Anschlägen von Paris haben die Sicherheitsbehörden das öffentliche Leben in Brüssel eingeschränkt. Spuren der Attentäter führen hierher. Die Bahnen haben inzwischen ihren Betrieb wieder aufgenommen, aber den Zug vom Flughafen zum Bahnhof Brussel-Centraal nutzt kaum jemand. Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger will sich vom Ausnahmezustand nicht beirren lassen. Im Restaurant „Maxburg“, wenige Hundert Meter vom Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission entfernt, bestellt er Butterbrezeln und Schwarztee – und spricht über Strategien gegen die Bedrohung.

Redaktion: Herr Oettinger, in Brüssel gilt immer noch eine hohe Terrorwarnstufe, die Sicherheitsbehörden fürchten Anschläge wie in Paris. Wie gehen Sie damit um?

Günther Oettinger: Ich lebe meinen Alltag weiter so wie bisher, da gibt es eigentlich keinen Unterschied zu vorher. Brüssel ist die europäische Hauptstadt. Daher ist es auch verständlich, dass sie von Terrorgefahren nicht verschont bleibt. Sie ist zudem eine multikulturelle Stadt, die Sicherheitsorgane sind hier sehr heterogen organisiert. Eine unauffällige Terrorvorbereitung ist daher eher möglich als beispielsweise in Bayreuth. Brüssel kommt mir vor wie ein kleines New York. Es gibt Bezirke mit Glanz und einem hohen Maß an Sicherheit. Es gibt aber auch Gegenden, in denen ich nachts nicht unbedingt alleine spazieren gehen würde. Aber hier im Europaviertel ist das anders. Ich nehme an Besprechungen und Konferenzen teil und fühle mich dabei sicher.

Sie haben einen 17-jährigen Sohn, der bei seiner Mutter in Köln lebt. Raten Sie ihm von Besuchen ab?

Köln ist eine multikulturelle deutsche Großstadt. Es ist daher schwer zu sagen, ob sie sicherer ist als Brüssel. Wir treffen uns unverändert, vielleicht ein bisschen weniger, weil er sich gerade auf das Abitur vorbereitet. Aber wenn er kommt, dann kommt er mit dem Thalys.

Teilen Sie die Einschätzung des französischen Präsidenten Hollande: Befindet sich Europa im Krieg?

Europa wird hoffentlich nie mehr Kriege erleben, wie man sie aus dem 19. und 20. Jahrhundert kennt. Aber die Terrorattacke ist eine andere Form der kriegerischen Auseinandersetzung. Wir haben es mit einem Gegner zu tun, der kaum greifbar und zu allem bereit ist. Seine religiösen Wahnvorstellungen schließen ein, nach vollbrachter Terrorattacke ein schöneres Leben im Jenseits zu führen. Ich kann nachvollziehen, dass Präsident Hollande nach den Anschlägen in seinem Land von Krieg spricht. Eine fremde, terroristische Macht führt Krieg gegen das freie Europa.

Ist es richtig, dass Deutschland an der Seite Frankreichs in den Kampf gegen den IS zieht?

Wir sollten den IS-Terroristen die Möglichkeit nehmen, sich in ihrem Wahn auszutoben. Die Entscheidung, die französische Armee bei ihren Angriffen auf IS-Stellungen in Syrien zu unterstützen, halte ich für richtig. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir uns gegen eine neue Art von Terroranschlägen wappnen.

Wovon sprechen Sie?

Die Terrorattacke der Zukunft wird nicht mit Bombengürteln durchgeführt. Sie richtet sich gegen sensible Infrastruktur von Wirtschaft und Gesellschaft: Wir müssen damit rechnen, dass es Cyberattacken auf das Stromnetz, die Wasserversorgung oder die Flugsicherung geben wird – auch von islamistischen Terroristen. Wir müssen alles tun, damit unsere digitale Infrastruktur sicherer wird. Wir müssen mehr investieren, um solche Angriffe zu erschweren und die Abwehr zu verbessern.

Geben Sie uns ein Beispiel.

Parlament, Rat und Kommission der EU beraten über ganz konkrete Sicherungsmaßnahmen. Das fängt bei Meldepflichten und der gegenseitigen Information über Cyberattacken an, die man in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einschätzen kann. Die Verwaltung einer Großstadt muss verpflichtet werden, sich an die Sicherheitsbehörden zu wenden, wenn sie merkt, dass ihr Stromnetz gehackt wird. So kann man schneller hinter die Systematik von Cyberattacken kommen.

Haben Sie eine Vorstellung, wie digital die IS-Terroristen jetzt schon operieren?

Der IS und andere islamistische Gruppen nutzen das Internet intensiv – etwa zum verschlüsselten Informationsaustausch. Die Frage stellt sich, ob wir unseren Geheimdiensten mehr Möglichkeiten geben sollen, diesen Austausch zu verfolgen. Wir brauchen eine bessere Überwachung und eine akribische Analyse der digitalen Kommunikation islamistischer Terroristen. Dazu müssen die Geheimdienste technisch und personal ertüchtigt werden.

Nach der Anschlagsserie von Paris sind die Geheimdienste wieder in die Kritik geraten. Wird es Zeit, einen gemeinsamen europäischen Nachrichtendienst zu schaffen?

Ich bin Realist: Das Thema innere Sicherheit wird von den Mitgliedstaaten als ihre nationalstaatliche Angelegenheit gesehen. Gerade Länder wie Großbritannien oder Frankreich, die stolz auf ihre Nachrichtendienste sind, werden auf absehbare Zeit nicht bereit sein, ihre Erkenntnisse in einen europäischen Geheimdienst einzubringen. Richtig ist allerdings, dass der Austausch von Informationen zwischen den europäischen Geheimdiensten deutlich besser organisiert werden sollte. Und gerade wir in Deutschland sollten endlich unser Grundmisstrauen gegenüber Geheimdiensten ablegen.

Welche Instrumente entwickeln Sie gegen die dschihadistische Propaganda im Netz?

Wir schauen uns derzeit die Suchmaschinen, digitalen Dienste und vor allem die sozialen Netzwerke genau an. Anbieter wie Facebook neigen dazu, sich als reine Plattformen zu begreifen. Ich sehe aber auch, dass sie mit den Einträgen gutes Geld verdienen. Daher haben sie auch eine Verantwortung für die Inhalte. Vorbild kann die Verantwortung sein, die Zeitungen für den Inhalt von Leserbriefen tragen. Inhalte, die gegen unsere Werte verstoßen, sollten von den Anbietern rasch und dauerhaft gelöscht werden.

Die Anschläge von Paris fallen in eine Phase, in der Europa um eine Begrenzung des Flüchtlingszustroms ringt. Kanzlerin Merkel lehnt Obergrenzen ab - und erlebte eine Demütigung auf dem Parteitag der Schwesterpartei CSU.

Das Drehbuch für den CSU-Parteitag war unglücklich. Klar ist: Europa muss sich in der Flüchtlingsfrage neu finden. Die Dublin-Regeln, wonach der Erstaufnahmestaat für die Asylverfahren zuständig ist, funktionieren, wenn nur ein paar Tausend Flüchtlinge im Jahr kommen. Wir brauchen dringend ein europäisches Quotensystem für Flüchtlinge. Und wir müssen die Asylregeln in Europa angleichen. Schweden, Österreich und Deutschland können die Last nicht alleine tragen. Eine Änderung des Grundgesetzes darf dabei kein Tabu sein.

Die Kanzlerin setzt in der Flüchtlingskrise auf die Türkei. Ist das klug?

Es ist ganz entscheidend, dass es der Europäischen Union gelingt, mit der Türkei ein Abkommen zur Begrenzung des Flüchtlingszustroms zu schließen. Ziel muss sein, dass Europäer und Türken gemeinsam die türkische Küste kontrollieren, damit die Schlepperboote nicht mehr ablegen können. Im Gegenzug sollten die Europäer der Türkei dabei helfen, die menschenwürdige Versorgung in den Flüchtlingslagern sicherzustellen. Die drei Milliarden Euro, die gerade diskutiert werden, sind ein guter Anfang. Darüber hinaus sollten wir bald weitere Kapitel in den Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei öffnen.

An diesem Sonntag kommt der türkische Ministerpräsident Davutoglu zum Gipfeltreffen nach Brüssel. Wann sagen die Europäer den Türken die Wahrheit: dass sie niemals Mitglied der EU sein werden?

Die Türkei ist ein Beitrittskandidat. Der Ausgang der Verhandlungen ist völlig offen. Die Entscheidung, ob die Türkei in die EU aufgenommen wird, fällt nach einer gründlichen, vorurteilsfreien Überprüfung. Die Glaubwürdigkeit der Europäer hängt zentral davon ab, dass sie einen Türkeibeitritt nach wie vor für möglich erachten. Eine Aufnahme der Türkei wird mit Sicherheit nicht in diesem Jahrzehnt zur Abstimmung gestellt. Sie darf aber auch nicht kategorisch ausgeschlossen werden.