Brüssel. Eine Woche nach den Anschlägen von Paris wurde in Brüssel die höchste Terrorwarnstufe verhängt. Das öffentliche Leben steht still.

„Einpacken!“, ruft der Polizist vor dem italienischen Feinkoststand. „Schluss für heute! C’est fini!“ Samstag um halb ein Uhr mittags nimmt der Betrieb auf dem Wochenmarkt auf der Place Flagey normalerweise Fahrt auf.

Der Platz ist einer der beliebtesten Treffpunkte im bunten Viertel Ixelles, am östlichen Rand der Brüsseler Innenstadt. Am Wochenende erledigen die Leute hier ihre Einkäufe, trinken ein Gläschen Sekt. Wer Zeit hat, Schlange zu stehen, holt sich eine Portion Fritten, die Nationalspeise.

Doch an diesem Sonnabend wird das Miteinander verschiedener Schichten und Ethnien, das diesem Platz seinen Charme verleiht, jäh abgewürgt. Alarmstufe vier in der Region Brüssel, akute Anschlagsgefahr. Die Hauptstadt Belgiens und der Europäischen Union ist im Ausnahmezustand.

Attentäter könnten an mehreren Orten zuschlagen

Es gebe Hinweise, dass eine Attentatsserie nach dem Vorbild von Paris drohe, warnt Ministerpräsident Charles Michel: „Es besteht die Gefahr, dass mehrere Attentäter mit Waffen und Sprengstoff an verschiedenen Orten gleichzeitig zuschlagen.“ Weitere Details nennt der Regierungschef nicht.

Am Sonntagnachmittag werde die Regierung erneut über die Sicherheitslage beraten. Bis dahin fahren in Brüssel keine U-Bahnen, es gibt keine Fußballspiele, keine Konzerte. Geschäfte müssen schließen.

Eigentlich waren sie in Brüssel auf Durchatmen eingestellt. Nach einer aufreibenden, vom ständigen Geheul der Polizeisirenen untermalten Woche im Zeichen der Terroristenjagd, düsterer Verlautbarungen der Regierung und unerfreulicher internationaler Aufmerksamkeit für die „Terror-Drehscheibe“ Brüssel, sollte das Wochenende ein Stück Normalität zurückbringen. Und nun – das Gegenteil. Es geht weiter, es wird schlimmer. Eine Stadt igelt sich ein.

Wer weiß, wann es wieder Brot gibt

Auf der Place Flagey ziehen der Polizist und seine Kollegen von Stand zu Stand und informieren die Händler: „Morgen kein Markt!“ Die Verkäuferin am Stand mit den Pilzen packt hastig ihre Ware zusammen.

Am Wochenende macht sie normalerweise das beste Geschäft. „Das ist traurig, ganz schlimm für uns!“, sagt sie. Schräg gegenüber decken sich zwei Polizisten noch rasch mit frischem Brot ein, wer weiß, wann es wieder welches gibt. Am Sonntag versorgt sich die Stadt zum großen Teil über die zahlreichen Märkte, diesmal wird daraus nichts.

Auch der riesige Basar am Südbahnhof, wo man von Fleisch und Gemüse über Zimmerpflanzen und Wintermäntel bis zum gebrauchten oder geklauten Fahrrad alles bekommt, wird an diesem Sonntag geschlossen sein.

Der Bahnhof ist das Zentrum eines Viertels, in dem viele Familien mit Wurzeln in Nordafrika, dem Nahen Osten oder der Türkei wohnen. Hier fahren die Hochgeschwindigkeitszüge Richtung Paris und London ab. Sie gelten als besonders gefährdet, nicht erst seit im August ein Gotteskrieger mit einer Sporttasche voller Waffen den Thalys Richtung Frankreich bestieg und nur in letzter Sekunde von couragierten Mitreisenden gestoppt werden konnte.

Nach dem Bruder des Attentäters wird weiter gefahndet

Am Sonnabend ist es am Bahnhof ruhig. Polizisten in blauer und Soldaten in grüner Uniform patrouillieren durch die Gänge. Mancher Reisende muss seine Fahrkarte nicht nur dem Bahnpersonal zeigen, sondern zusätzlich Männern mit Maschinenpistole.

Polizei und Militär haben ihre Präsenz in der gesamten Hauptstadt erhöht. Nach Angaben der Regierung stehen inzwischen 1000 Soldaten für Patrouillen bereit, doppelt so viele wie vor einer Woche.

Belgien und seine Hauptstadt waren nach der Anschlagsserie von Paris mit mindestens 130 Toten in den Fokus der Ermittlungen gerückt, da mindestens zwei der Angreifer im Brüsseler Stadtteil Molenbeek lebten. Nach dem Bruder eines der Selbstmordattentäter von Paris wird nach wie vor gefahndet.

Ein Laden nach dem anderen macht zu

Der belgische Innenminister Jan Jambon fordert nun ein Register darüber, wer eigentlich in Molenbeek lebt. Dies sei völlig unklar, sagt er. Deshalb gingen Beamte von Haus zu Haus und fragten nach, wer dort tatsächlich wohne. In der Wohnung eines Verdächtigen wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft Waffen gefunden.

Gestern morgen scheint noch alles wie sonst, fast alle Läden öffnen. Manche Inhaber haben von der Terrorwarnung noch nichts mitbekommen. Und viele sind sich im Unklaren, was genau das bedeutet, Alarmstufe vier.

Die Sportvereine sagen per Handy ihre Wochenendveranstaltungen ab. Auch die Tanzschule Impulsion, wo man der gelenkigen Jugend Hip-Hop und Breakdance beibringt, schickt eine SMS: „Auf Anweisung der Gemeinde und aus Gründen der Sicherheit sind alle Kurse annulliert.“

Nach und nach zeigt sich in der beliebtesten Einkaufsstraße der Stadt, der Rue Neuve, dass die Leute auch zum Shopping keine Lust mehr haben. Ein Laden nach dem anderen sperrt zu. An manchen hängen hastig von Hand geschriebene Zettel: „Geschlossen“.

Tristesse macht sich breit. Wo ansonsten hektisches Gedränge herrscht, sind nur wenige unerschrockene Rest-Shopper unterwegs. Der Rest sind schwer bewaffnete Polizeistreifen und Kamerateams der internationalen Presse.

Auch bei Laurent Terry ist samstags eigentlich Hochbetrieb. Nur wer lange vorher reserviert hat, bekommt im Friseursalon in der Nähe des „Jubelparks“ Cinquantenaire im Europaviertel die Haare geschnitten. Heute aber sei es „très calme“, bestätigt der Chef, „sehr ruhig“. Es gibt Absagen. Aber nicht nur die Kundschaft bleibt in diesen Zeiten lieber zu Hause. Terry selbst lässt seine Theaterkarten verfallen. Aber das Theater ist eh geschlossen.