Berlin/Brüssel. Viele Staaten in Osteuropa wollen keine Menschen mehr aufnehmen. EU-Politikern bereitet das große Sorge. Jean Asselborn wird deutlich.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn ist ein ruhiger, bedächtiger Mann. Wenn ihm mal der Kragen platzt, wird man hellhörig. Die neueste Warnung des 66-jährigen Politkers fällt in diese Kategorie: „Die Europäische Union kann auseinanderbrechen. Das kann unheimlich schnell gehen, wenn Abschottung statt Solidarität nach innen wie nach außen die Regel wird“, sagte der Chefdiplomat seines Landes. Er nennt Deutschland und Schweden als positive Beispiele und rüffelt indirekt die Osteuropäer, die ihre Grenzen dicht machen wollen.

Asselborn kritisiert die fehlende Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen. Er bemängelt die laxe Kontrolle der EU-Außengrenzen – entgegen den im Schengen-Abkommen festgeschriebenen Vereinbarungen. Und er schließt mit einem finsteren Szenario: „Dieser falsche Nationalismus kann zu einem richtigen Krieg führen.“ Wenn in Deutschland und Schweden die Grenzen geschlossen würden, „dann weiß ich nicht, was auf dem Balkan geschieht“, unterstrich Asselborn.

War die Griechenlandkrise dagegen nur ein laues Lüftchen?

Beobachter fragen sich mittlerweile: Zerbricht die EU am Ende über der Flüchtlingskrise? War das fünf Jahre lange Hickhack bis zum dritten Rettungspaket für Griechenland dagegen nur ein laues Lüftchen?

Fest steht: Viele Osteuropäer wollen Migranten aus muslimischen Ländern nicht integrieren. Und wenn, dann nur in homöopathischen Dosen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban ließ gar einen mehr als 170 Kilometer langen Zaun hochziehen. Überall in Europa lässt sich beobachten: Nationalkonservative oder nationalistische Parteien erzielen beträchtliche Gewinne bei Wahlen – am vergangenen Sonntag passierte dies in Kroatien. Zuvor hatte es in Polen und in Österreich einen Rechtsruck gegeben.

„Was bisher unvorstellbar war, wird jetzt vorstellbar“

Asselborns Brandworte sind nur der vorläufige Endpunkt einer Kette von skeptischen Äußerungen. Im September hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, einer der Gralshüter der europäischen Idee, gemahnt: „Unsere Europäische Union ist nicht in einem guten Zustand. Es gibt genug Europa in der Union, und es gibt nicht genug Union in der Union.“ Im Oktober machte Junckers Vize, Frans Timmermans, in Europa eine „Existenzkrise“ aus. „Was bisher unvorstellbar war, wird jetzt vorstellbar: die Desintegration des Projekts Europa.“ Auch aus dem EU-Parlament kommen pessimistische Einschätzungen. „Natürlich kann die EU zerbrechen“, sagte Alexander Graf Lambsdorff, Vorsitzender der FDP-Gruppe, der Morgenpost. „Große Reiche und Bündnisse sind in der Vergangenheit immer wieder gescheitert, wenn ihre Mitglieder es an Einsatz für die gemeinsame Sache fehlen ließen.“ Das werde in der Flüchtlingskrise in dramatischer Weise deutlich.

Der Liberalen-Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt legt nach: „Wenn die Politik der Hoffnung und Leidenschaft nicht die Politik der Angst ersetzen kann, dann marschiert Europa auch weiterhin auf einen Sturm zu, der immer größere Ausmaße annimmt.“

Wie ein Hilferuf nach einem neuen Kohl oder Mitterrand

Es klingt wie ein Hilferuf nach neuen Europa-Architekten vom Schlage Helmut Kohls oder François Mitterrands, die dem Kontinent nach zwei Weltkriegen eine Vision vom Zusammenwachsen der Staaten und Völker verliehen hatten. Doch die Zeichen stehen heute nicht auf mehr Integration. Vielmehr bröckelt das, was bereits erreicht wurde. Die im Schengen-Abkommen festgezurrte Sicherung der EU-Außengrenzen ist extrem löchrig – siehe die turbulente Lage in Griechenland oder Italien. Auch das Dublin-III-Abkommen existiert nur auf dem Papier. Die Regelung, dass Flüchtlinge in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie als erstes EU-Territorium betreten, wird jeden Tag über den Haufen geworfen.

Dennoch stimmen nicht alle in Brüssel in den Asselborn-Chor ein. „Die EU steht vor gewaltigen Herausforderungen, aber wir sollten Dramatisierungen vermeiden“, sagte der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, der Morgenpost. Das Dublin-III-Abkommen müsse reformiert werden. „Für Bürgerkriegsflüchtlinge brauchen wir künftig großzügige, aber begrenzte Kontingente und eine faire Verteilung“, fordert der CSU-Politiker. „Hier muss es eine europaweite Quote mit Obergrenzen geben.“ Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU) macht sich ebenfalls für eine „faire Verteilung der Verantwortung und Lasten“ stark. Europa sei wegen der „Krise der Solidarität“ und der „Krise des Nationalismus“ in einer „sehr ernsten Situation“, sagte Röttgen der Morgenpost.

Das Vertrauen der Bürger in die Politik schwindet

Politikforscher vermissen bei der Politik einen langfristig angelegten Plan. So habe die EU in der Bewältigung der Flüchtlingsfrage außer „Feuerlöscharbeiten“ nicht viel zustande gebracht, klagt Jannis Emmanouilidis von der Denkfabrik European Policy Centre in Brüssel. „Die Situation ist in den vergangenen Jahren deutlich schlechter geworden“, stellte er fest. „Ein zunehmender Mangel an Vertrauen hat zu tiefen Gräben in der EU geführt.“ Es gebe immer mehr Misstrauen zwischen den EU-Regierungen, Misstrauen zwischen den Regierungen und den EU-Institutionen sowie Misstrauen zwischen den Bürgern und den nationalen Parteien.

Zudem habe die Flüchtlingskrise gezeigt, dass die Regierungen die Lage völlig unterschiedlich bewerteten, erklärte Emmanouilidis. „Dies führt zu der weit verbreiteten Ansicht der Bürger, dass die existierende EU immer weniger in der Lage ist, die vorhandenen Probleme zu lösen.“

Doch es gibt auch Stimmen die zu Gelassenheit und Ruhe aufrufen. Josef Janning von der Berliner Denkfabrik Council on Foreign Relations sieht zumindest kurzfristig keinen Grund zur Panik. „Die EU wird nicht über der Flüchtlingskrise auseinanderbrechen.“ Aber auf lange Sicht drohe Gefahr: „Diese kann eine Welle ins Rollen bringen, wenn es dauerhaft keine Einigung gibt“, sagte Janning.