Ankara . Spannung vor der Parlamentswahl am Sonntag. Regierungskritiker sehen beim türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan despotische Züge.

So schnell kann ein Kurswechsel gehen. Nachdem die Türken am Donnerstag die Zeitungen „Bugün“ und „Millet“ vergeblich an den Kiosken suchten, erschienen die Blätter am Freitag wieder – mit ganz neuer Linie: Die beiden bisher regierungskritischen Gazetten verbreiten nun Lobeshymnen auf Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu. Am Mittwoch hatte die türkische Justiz den Medienkonzern Koza İpek, zu dem die Zeitungen gehören, faktisch enteignet und unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Jetzt bringen die Staatskommissare die Zeitungen buchstäblich über Nacht auf Regierungskurs.

Polizei stürmte Medienhaus

Die Stürmung der Zentrale des regierungskritischen Medienhauses im Istanbuler Stadtteil Şişli durch starke Polizeikräfte am Mittwoch hat das ohnehin angespannte Klima vor der Parlamentswahl am Sonntag weiter aufgeheizt. Der wiederaufgeflammte Kurdenkonflikt und der schwere Terroranschlag von Ankara, wo zwei Selbstmordattentäter am 10. Oktober über 100 Teilnehmer einer Friedenskundgebung in den Tod rissen, überschatteten den Wahlkampf. Die Türken wählen am Sonntag in einer Atmosphäre der Gewalt und der Angst.

Der Urnengang wurde nötig, nachdem die seit 2002 regierende islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) bei der Parlamentswahl Anfang Juni ihre absolute Mehrheit verloren hatte. Weil Koalitionsverhandlungen scheiterten, setzte Staatspräsident Erdoğan Neuwahlen an. Vor allem um ihn geht es bei dieser Abstimmung. Er hofft, dass seine AKP am Sonntag mindestens 330 der 550 Mandate erobert. Dann könnte er eine Verfassungsänderung auf den Weg bringen und ein Präsidialsystem einführen, das ihm als Staatschef nahezu unumschränkte Macht geben soll.

Die Türkei steht vor der Weichenstellung

Damit wird diese Wahl zu einer Weichenstellung, die über das künftige politische System des Landes entscheidet. Kritiker werfen Erdoğan vor, dass er zunehmend despotische Züge an den Tag legt, vor allem seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014. In dieser Rolle habe Erdoğan bereits viele Kompetenzen an sich gezogen, die ihm laut Verfassung gar nicht zustehen.

Für die Türkei geht es bei dieser Wahl um die innenpolitische Stabilität – und damit auch um das Vertrauen ausländischer Investoren und Anleger. Ziehen sie sich wegen politischer Turbulenzen aus dem Land zurück, könnte die Türkei in eine Rezession rutschen. Das Wirtschaftswachstum schwächelt bereits seit zwei Jahren, die Lira hat allein in diesem Jahr ein Viertel ihres Außenwertes verloren.

Auch für Europa steht viel auf dem Spiel

Die EU kritisiert in ihrem jüngsten Türkei-Bericht Rückschritte bei der Meinungsfreiheit, Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit und eine „Unterminierung der Gewaltenteilung“. Die eigentlich für Oktober vorgesehene Veröffentlichung des kritischen Berichts wurde zurückgestellt – wohl auch, um Verhandlungen mit der Türkei zur Lösung der Flüchtlingskrise nicht zu belasten.

Bei der Wahl steht auch für Europa viel auf dem Spiel. Erdoğan und Davutoğlu gelten als Schlüsselfiguren zur Lösung der Flüchtlingskrise, denn die meisten Flüchtlinge kommen über die Türkei in die EU. Das Land mit seiner sehr jungen, konsumfreudigen Bevölkerung ist für Europa und insbesondere für Deutschland ein wichtiger Handelspartner. In der Türkei gibt es rund 6500 Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Für die Nato ist die Türkei wegen ihrer geografischen Lage und der direkten Nachbarschaft zum Iran, Irak und zu Syrien ein wichtiger strategischer Partner.

Umfragen sprechen gegen Erdogans AKP

Umfragen deuten darauf hin, dass die AKP am Sonntag zwar stärkste Partei bleibt, ihr Ziel einer absoluten Mehrheit aber erneut verfehlen wird. Kommt es so, hängt viel von Erdoğan ab. Er könnte Davutoğlu grünes Licht für die Bildung einer Koalition geben – auf deren Politik er allerdings viel weniger Einfluss hätte als auf eine reine AKP-Regierung. Oder Erdoğan riskiert, um seine Macht zu sichern, einen dritten Wahlgang Anfang nächsten Jahres. Das dürfte allerdings die innenpolitischen Spannungen weiter verschärfen.