Istanbul . Die türkische Polizei hat einen TV-Sender gestürmt: Beobachter befürchten mehr Druck der Regierung auf Medien. Am Sonntag ist Wahl.

Wenige Tage vor der Parlamentswahl in der Türkei verstärken die Behörden den Druck auf regierungskritische Medien massiv. „Liebe Zuschauer, bitte wundern Sie sich nicht, wenn Sie in den nächsten Minuten die Polizei in unserem Studio sehen“, sagte der Moderator des Senders Bugün TV am Mittwochmorgen während des Frühstücksfernsehens. Dann war es so weit. Vor laufenden Kameras stürmten starke Polizeikräfte am Mittwochmorgen in Istanbul die Zentrale der Koza Ipek-Mediengruppe.

Kameraleute sendeten Live-Bilder der Erstürmung

Mit Spezialsägen und Metallschneidern verschafften Feuerwehrleute der Polizei Zugang zu dem Gebäude im Stadtteil Sisli. Nachdem sie die Türen aufgebrochen hatten, trieben die schwer bewaffneten Polizisten die Angestellten des Unternehmens mit Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcken auseinander. Mehrere Journalisten erlitten Verletzungen. Wasserwerfer hielten vor dem Gebäude Demonstranten in Schach. Dann stießen die Beamten in die Redaktionsräume der dort arbeitenden TV-Sender Kanaltürk und Bugün TV sowie der Zeitungen Bugün und Milliyet vor und erreichten schließlich auch die Regie-Räume und Fernsehstudios. Kameraleute sendeten Live-Bilder von der Erstürmung – bis die Polizei den Stecker zog.

Behörden werfen Sender Unterstützung von Terroristen vor

Am Montagabend hatte die Justiz die Koza Ipek Holding, zu der auch das Medienunternehmen gehört, unter staatliche Aufsicht gestellt und einen Zwangsverwalter eingesetzt. Der Vorwurf: Das Unternehmen habe eine Terror-Organisation unterstützt und finanziert. Hintergrund: Die Holding, zu der 22 Firmen verschiedener Branchen gehören, soll Verbindungen zu dem islamischen Prediger Fetullah Gülen haben. Gülen war bis vor einigen Jahren ein enger Verbündeter des damaligen Premiers und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Inzwischen haben sich die beiden Männer aber überworfen.

Beobachter erwarten weiteres Vorgehen gegen Medienhäuser

Erdoğan beschuldigt den 74-jährigen Gülen, der aus seinem Exil in den USA ein weltumspannendes Netzwerk von Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen steuert, er arbeite auf den Sturz der Regierung hin. Die türkische Staatsanwaltschaft hat Gülen wegen „Terrorismus“ angeklagt. Erdoğan bemüht sich in den USA um eine Auslieferung Gülens, bisher allerdings vergeblich. Tausende angebliche Gefolgsleute Gülens ließ Erdoğan bereits aus dem Sicherheitsapparat und der Justiz entfernen. Beobachter erwarten, dass die Regierung nach dem Schlag gegen Koza Ipek auch gegen weitere kritische Medienunternehmen wie Dogan Media und die Feza-Gruppe vorgehen wird.

Erdoğan lässt seine Kritiker immer gnadenloser verfolgen. So ermittelt jetzt die Justiz in der Kurdenmetropole Diyarbakir gegen zwei Jungen im Alter von zwölf und 13 Jahren wegen „Beleidigung“ des Staatspräsidenten. Die Jungen sollen ein Erdoğan-Plakat abgerissen haben. Dafür fordert die Staatsanwaltschaft jetzt Haftstrafen von bis zu vier Jahren und acht Monaten. Bereits vergangene Woche hatte die Polizei im zentralanatolischen Kayseri einen 14-Jährigen in einem Internetcafé festgenommen und über Nacht im Polizeigewahrsam festgehalten. Der Schüler soll im Online-Netzwerk Facebook Erdoğan beleidigt haben. Auf ihn wartet ein Prozess.

Erdoğans Ziel ist Präsidialsystem

„Respekt für die Pressefreiheit ist eine Schlüsselbedingung für die türkische EU-Perspektive“ kommentierte die niederländische Politikerin und Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri, die Erstürmung der Mediengruppe auf Twitter. Die Türkei bemüht sich um einen EU-Beitritt. Erst vor wenigen Tagen hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Besuch in Istanbul Präsident Erdoğan ihre Unterstützung bei der Intensivierung der Beitrittsverhandlungen versprochen. Bei der Parlamentswahl am Sonntag hofft Erdoğan auf eine starke Mehrheit für seine islamisch-konservative AKP. Er plant dann eine Verfassungsänderung, um ein Präsidialsystem einzuführen, das ihm nahezu unumschränkte Macht geben könnte.