Berlin. Der Rechtsextremismus-Forscher Johannes Kiess warnt vor „einer massiven Mobilisierung der Rechten“. Pegida sei nur ein Zeichen dafür.

So viele Demonstranten bei Pegida wie lange nicht mehr, das Attentat auf die Kölner Kommunalpolitikerin Henriette Reker und mehr als 500 fremdenfeindliche Anschläge seit Anfang des Jahres: Das Klima in der politischen und medialen Auseinandersetzung verschärft sich. Der Rechtsextremismus-Forscher Johannes Kiess von der Universität Leipzig und warnt im Gespräch vor „einer massiven Mobilisierung der Rechten“.

Hat der Rechtsextremismus nach dem Attentat auf die neue Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker eine neue Stufe erreicht?

Kiess: Es scheint jedenfalls ein klarer Wendepunkt zu sein, was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft. Wir haben es vermutlich mit dem Fanal einer neuen rechtsextremen Bewegung zu tun. Gefährlich an der momentanen Situation ist, dass sich für die Extremen ein Zeitfenster aufgetan hat, das sie nutzen können, um mehr Menschen zu überzeugen. Der Fall zeigt außerdem, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, dass rechter Terror immer in Gruppen organisiert sein muss, wie beim NSU. Es können auch Einzeltäter zuschlagen. Insgesamt ist eine massive Mobilisierung der Rechten zu beobachten. Und wir bekommen ein ganz massives Problem, wenn Kommunalpolitiker sich derart gefährdet sehen, dass sie ein Amt nicht mehr bekleiden. Drohungen gegenüber Politikern sind ja kein Einzelfall. Die zeigen die Beispiele des Oberbürgermeisters von Leipzig und des Bürgermeisters von Bernau.

Wie sollte der Staat darauf reagieren?

Kiess: Polizei und Staatsanwaltschaft müssen gegen Gewalt- und Straftaten klarer vorgehen als bisher. Die Grenzen müssen eindeutig sein: Es darf nicht passieren, dass die Einsatzkräfte - wie teilweise zum Beispiel in Leipzig geschehen - den Hitlergruß von Demonstranten oder volksverhetzende Parolen achselzuckend akzeptieren. Darin liegt die Gefahr, dass solche justiziablen Äußerungen auf Dauer die Hemmschwelle verschieben: Im schlimmsten Falle würde der Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim als eine Art legitimes Mittel der Auseinandersetzung dargestellt. Eine Radikalisierung von Pegida und der AfD beobachten wir ja bereits, nicht zuletzt in den offen ausländerfeindlichen Äußerungen und der Warnung von Parteichefin Frauke Petry vor einem „heißen Herbst“.

Die Botschaft scheint ja bei vielen Bürgern anzukommen, die Mitgliederzahlen der AfD wachsen stetig. Warum?

Kiess: Viele fühlen sich von der Gesellschaft abgehängt. Das ist tatsächlich extrem gefährlich, denn unsere politische und demokratische Kultur ist zur Zeit nicht im allerbesten Zustand. Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Das liegt etwa an der amtierenden Regierung als Große Koalition, in der viele Entscheidungen den Bürgern wie vorweggenommen erscheinen und die Opposition weniger stark ausgeprägt ist. Der AfD tut sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise ein „Möglichkeitsfenster“ auf. Anders als in vorigen Krisen, etwa der Finanzkrise, ist das Problem diffiziler: Eine schnelle einfache Lösung ist nicht in Sicht. Und das trägt zur allgemeinen Verunsicherung der Menschen bei. Wir messen in unseren Untersuchungen aber auch eine weite Verbreitung Rechtsextremer, dieses Potenzial können sowohl AfD als auch Pegida mobilisieren.

Ist die Diskussion um Verteilungskämpfe, etwa auf dem Wohnungsmarkt, denn Panikmache?

Kiess: Sie kommt den rechtsextremen Strömungen zugute, sie schlagen Kapital daraus. Die regierenden Politiker müssen allerdings auf solche Alltagsängste reagieren: Sie müssen schon die Probleme anerkennen, die ja durchaus zu lösen sind. Konkret heißt das: Wir müssen mehr über Programme für den sozialen Wohnungsbau sprechen und Mittel gegen die Altersarmut finden. Während die Exekutive – wie eben erwähnt – für die Einhaltung der im Grundgesetz verankerten Regeln einstehen muss, sind hier verstärkt die Politiker gefragt: Sie müssen auch der Spaltung des Arbeitsmarkts entgegenwirken. Denn die untere Mittelschicht ist auch von Abstiegsängsten geplagt, was sie anfällig für extremere politische Ansichten macht. Sie müssen sich wieder mehr eingebunden fühlen.

Welche Rolle kann der Einzelne, der Bürger, übernehmen?

Kiess: Er sollte mit seinen Mitbürgern ins Gespräch kommen, gerade mit jenen, die vielleicht eher Stammtischparolen verbreiten. Das ist sicher nicht gerade einfach, aber wichtig. Hier allerdings scheint ein anderes Problem durch: Denn in ländlichen Gebieten und vielen kleinen Städten fehlt es an öffentlichen Räumen, in denen die Bürger überhaupt ins Gespräch kommen können. Und das liegt eben wieder an der Finanzierung der Gemeinden. Wo es an Vereinsräumen und anderen Orten des Zusammentreffens fehlt, da kann auch keine niveauvolle Debatte entstehen.